Bei WDR5 durfte ich eine halbe Stunde zu „Digitalem Nachlass“ reden, Audio hier.
Wie immer, wenn ich in fremden Strukturen antworte, fallen mir ganz andere Dinge auf, die ich nun hier gewissermaßen nacharbeite.
Online-Trauer-Angebote sind ökonomisch und nicht sozial getrieben
Das Thema ist stark von ökonomischen Interessen geprägt. Verlage, die Traueranzeigen-Geschäft verlieren, versuchen das zu Digitalgeschäft zu transformieren und entwickeln Online-Trauerportale; auch wenn sie das Altgeschäft nicht verlieren, so gewinnen sie immerhin Cross-Selling mit einem Digitalprodukt und damit Mehrumsatz. Der Vorteil einer digitalen Traueranzeige ist sehr gering: nur wer den Toten online sucht, kann die Anzeige finden. Die durch Zeitungsabos gelieferte Benachrichtigung findet online nicht statt, weil niemand täglich Trauerportale ansurft. So sehr also die „digitale Traueranzeige“ scheinbar naheliegt – sie ist eine abwegige Idee, und sie wird noch abwegiger, wenn sie Geld kostet.
„Trauerportale“, „virtuelle Gedenkstätten“, „Internet-Friedhöfe“ haben zwar ein paar Services mehr: ein Gästebuch als sog. „Kondolenzbuch“, Kerzen können digital-rituell angezündet werden, es gibt auch einen Bereich zur Würdigung des Toten mit Bildern und anderem. Aber die Sache wird nicht besser. Startups freuen sich über umsatzstarke Abo-Systeme, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass die Kündigungsrate extrem gering ist. Wer will schon Schuld daran sein, dass Opa die digitalen Kerzen ausgeblasen werden? Die Enkel zahlen doch lieber noch ein Jahr 49 EUR und fühlen sich gut damit. Trauerportale dienen dazu, Geld zu machen.
Der Vorwurf der Ökonomisierung
Nun kennen wir es aus der modernen Wirtschaftsgeschichte, dass ein Wert „zu Geld gemacht wird“, viele nennen das „Ökonomisierung“. Doch der Vorwurf der „Ökonomisierung“ ist unklar, kann vieles bedeuten. Liebe wird zu Geld gemacht (Prostitution und Dating) und Trauer wird zu Geld gemacht (Trauerportale), innere Leere wird zu Geld gemacht (Unterhaltung), Neugier wird zu Geld gemacht (Journalismus, ja). Es wird ja ein Bedürfnis nach Liebe oder Trauer erfüllt und als Gegenleistung Geld gezahlt. Das muss nicht jedermann gut finden, aber Geld als Tauschgut hat schon Vorteile: Es ist universell tauschbar, es verdirbt nicht so schnell, es paßt in die Jackentasche, es hat feste Mengenwerte, man kann es ohne Werkzeuge zählen, es gibt sogar jemanden, der für seine formelle Werthaltigkeit garantiert. Der „Ökonomisierungs“-Vorwurf trifft nicht, wenn er das bloße Geldverdienen meint. Vielmehr aber passiert mit dem Geldtausch häufig etwas anderes zugleich, im Feld der digitalen Trauerangebote lässt sich das mustergültig zeigen.
Unternehmen nutzen Verunsicherung, um vorteilhafte Kulturtechnik durchzusetzen
Die (ökonomisch motivierten) Anbieter nutzen die technische Innovation, um unklare Verhaltensregeln in moralische Imperative zu ihren Gunsten zu transformieren. Beispielsweise ist ja die Idee des „Digitalen Friedhofes“ als gesondertem Ort der Trauer in einer digitalen Welt ja eher eine seltsame Idee. Warum sollte jemand einen solchen Ort bewusst aufsuchen, wo der gewissermaßen natürliche Ort der Trauer derjenige ist, an dem man mit den Toten und seinem Umfeld in Kontakt kam: in Foren, in sozialen Netzwerken, in den Kommentarspalten von Publikationen beispielsweise. Der „Digitale Friedhof“ ist eine verwegene Idee, ausgedacht von neunmalklugen Business-Strategen.
Soziale Pflichten erzeugen, die monetarisiert werden
Ebenso ist es mit den neuesten Diensten, welche die Datenbereinigung des „Digitalen Nachlasses“ versprechen (Beispiel hier, man beachte die Bestatter als Verkaufspartner und Lead-Erzeuger). Sie sagen: Wir spüren mit unseren Tools alle Internetkonten des Verstorbenen auf und sorgen für ihre Löschung. Ja, so rufen unsere inneren Saubermänner: „Nach dem Tod müssen alle Daten gelöscht werden!“. Selbst Lisa Renk, die ein eigentlich lesenswertes Interview hier gab, sagt:
„Kaum jemand bedenkt, dass alles, was wir im Netz einrichten, nach unserem Tod von irgendwem betreut, gepflegt oder gelöscht werden muss.“
Man verzeihe mir die Härte der Wortwahl, aber das ist eine unhaltbare Behauptung. Es gibt keinen Grund für die Analogie zwischen der Wohnung, die man räumen und fegen muss, und den Stellen, an denen man gewissermaßen online kommentierend gewohnt hat. Im Gegenteil: es stört nicht von vornherein jemanden, wenn alle Inhalte so bleiben wie sie waren. Besser sogar, die Kundenrezensionen auf Amazon und die klugen Leserkommentare bei ZEIT Online bleiben der Nachwelt erhalten. Es gibt keine einzige sozial etablierte Regel für Trauer an einem bestimmten Ort und keine Regel für das „Säubern“ von Internetkonten – aber die Anbieter versuchen, mit unbegründeten Analogien solche Regeln durchzusetzen. Natürlich können Nachfahren im Einzelfall Gründe haben, um Inhalte zu löschen, aber eine solche Regel gibt es nicht.
Wortgebilde als Wirtschafts-Kampfbegriffe
Es ist auch beim Begriff „Digitaler Nachlass“ so, den auch viele Medien benutzen, weil er so griffig ist. Gerade hat auch der BITKOM dazu Befragungsergebnisse veröffentlicht. Aber warum genau sollte man Daten als „Nachlass“ bezeichnen? Als Nachlass bezeichnet man eine Menge von Vermögenswerten. Es gibt bei digitalen Inhalten aber keinen Besitz an ihnen, ein Besitzrecht kann nicht auf den Erben übergehen. Es gehen nur die Nutzungsrechte über, die in den Nachlass fallen, soweit sie nicht an Dritte übertragen wurden. Ein SpOn-Kommentar des Verstorbenen ist daher genauso wenig „Nachlass“ wie eine Facebook-Seite mit ihren Inhalten, weil der Verstorbene ja genau hierfür Nutzungsrechte an diesen konkreten Werken an SpOn und Facebook übertrug. Anders ist es bei Konten und Daten auf Festplatten: hier steht Erben Verfügungsmacht zu, im ersten Fall aufgrund eines privatrechtlichen Vertrages mit dem Betreiber, im zweiten Fall durch das Eigentumsrecht am physischen Datenträger. Nur was macht diese zu „Nachlass“ – sind sie so viel anders als Schlüssel zum Aufschließen der Tür bzw. eines Schließfaches oder anders als das Eigentum an einer Schatztruhe? Das Malheur ist: Entweder muss es nur „Nachlass“ heißen, weil es keine Besonderheit im Digitalen gibt. Oder es heißt „Digitaler Nachlass“, dann wäre es aber prima, wenn jemand erläutern würde, was genau den Unterschied macht.
Massenmedien kopieren Marketingbegriffe
Der Begriff des „Digitalen Nachlasses“ ist von Marketingabteilungen geprägt, die uns Hinterbliebenen eine Verantwortung für Daten und öffentliche Äußerungen einreden wollen. Es ist erstaunlich, dass das Journalisten nicht merken, der Begriff wird massenhaft in Massenmedien verwendet. Dabei sollte doch klar sein, dass Interviews, die zu Lebzeiten entstehen (anders kann es ja nicht sein), auch nicht beim Tode in irgendjemandes Nachlass fallen. Nein, der Begriff des „Nachlasses“ ist ein Kunstgriff, um uns grundlos in Verantwortung zu ziehen. Wir haben vielleicht eine Verantwortung, aber sie stammt aus der Beziehung und der Person des Toten und aus der Beziehung zu anderen Lebenden. (Vielleicht möchte man beispielsweise über die Umstände des Todes schweigen, um Lebende zu schützen und „Pietät“ gegenüber dem Toten wirken lassen.) Diese Verantwortung existiert nicht generell, sie muss im Einzelfall begründet werden.
Technik als Lösung für Probleme, deren Existenz unklar ist
Auch ich habe mich bei meiner Recherche einen ganzen Tag verwirren lassen, was alles vorbeugend für den Todesfall zu erledigen sein könnte: Wie lasse ich den GMail-Account eines Verstorbenen löschen, wie finde ich alle seine Internetkonten, wie finde ich aus Pietätsgründen zu löschende Kommentare, Postings, Bilder? Wie komme ich an diese Bilder heran? Wie erfahre ich, wen der Verstorbene online kannte? Man findet im Internet dutzendweise Beiträge und Checklisten zu diesen Fragen und vielen mehr.
Tatsächlich muss man aber vorbeugend fast nichts tun: Eine Vertrauensperson sollte wissen, wie sie Zugang zum Mailaccount bekommt, weil alle anderen Konten hierüber bei unbekannten Passwörtern wieder zugänglich werden. Und die Vertrauensperson sollte alle Bankkonten kennen, um sie sperren lassen zu können, falls ein Online-Banking-Account besteht. Das genügt für 98% der Fälle. Und mit den übrigen Fällen, über die ich auch stundenlang nachgedacht habe, muss man sich nicht im Radio beschäftigen, weil sie den Betroffenen von selbst auffallen werden. Wer zum Beispiel eine Affäre auch postmortal verheimlichen möchte, wird wohl auf die Idee kommen, digitale Spuren zu verwischen.
Das Thema wird dominiert von Fragen, die Voraussetzungen enthalten. Beispielsweise die Frage, wie man als Erbe „an die Bilder herankommt“. Man sollte nämlich die Antwort nicht von vornherein ausschließen, dass diese Bilder den Erben nichts angehen – warum muss er „herankommen“? Vielleicht sind sie auf einem Fotodienst, weil andere Zugriff haben sollten, und sie sollten daher auch so zugänglich bleiben? Vielleicht liegen sie aber auch in irgendeiner Internetgiganten-Cloud, wo sie überhaupt nicht gelöscht werden sollten, weil niemand zu Lebzeiten ein Passwort bekam und nun die Daten unzugänglich sind. Warum denn müssen Daten gelöscht werden, wenn es reichen würde, sie gewissermaßen in Acryl einzugiessen, auf ewig in ein Grab einzuschließen? Die Cloud als Daten-Castor, in ihr wird der Datenschatten zur Datenmumie: R.I.P. = Rest in Pentabyte.
Massenmedien suchen Probleme
Die neuen digitalen Möglichkeiten erzeugen also zunächst neue Probleme. Unsicherheit macht Angst. Der Umgang mit Möglichkeiten muss sozial entwickelt werden. Hier setzt die Logik der Massenmedien an, die uns ihre Services andienen: Dutzende von Checklisten wiederholen die Frage „Was können wir tun, um alles richtig zu machen?“ und verkünden genau hierdurch Unsicherheit. Die Antwort „Nichts können wir tun: Nach dem Tod ist dem Toten alles richtig, und den Rest wird das Leben schon richten.“ würde für fahrlässig gehalten. Dabei spricht viel für diese Antwort. Denn wer weiß schon, was nach dem Tod geschehen wird? Es wäre nicht das erste Mal, dass Ehepartner und Affärenpartner des Verstorbenen in ihrer gedoppelten Liebe zueinander fänden. Auch wäre die Annahme, dass Daten, die zunächst einmal wenigstens situativ sinnvoll waren, in der Regel auch später nicht schädlich sein können, nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht zeugt den Nachfahren gar ein Suizid von der Sinnlosigkeit dieses Vorhabens und sollte daher gar nicht erst vergessen werden? Mir selbst war der Tod meines besten Freundes ein Fanal. Wer an andere denken will, löscht ihnen nichts, was sie für ihre Geschichte noch brauchen könnten.
Menschen bilden Trampelpfade
Der „Tod im Internet“ eignet sich gut als Studienthema zu der Frage, wie sich Menschen an neue soziale Normen herantasten. Es gibt sehr viele Verhaltensweisen. Beim Tod eines Celebrities wird mit einem Entsetzen und Trauer in Einzeilern getwittert, meist in einfachen Formaten („R.I.P.“ und ein einfacher Ausdruck von Trauer und Entsetzen). Der Tod im privaten Umfeld scheinen mir noch gar keine Formen entwickelt zu sein (Kommentare mit anderen Beobachtungen gern unten). Nur sehr wenige Menschen formulieren eine Art Trauer-Anzeige auf Faceboook. Manche schwärzen den Avatar, manche andere sind nur passiv-still. Wieder andere entwickeln eine Website anlässlich des Todestages ihres Vaters. Und andere schreiben auf das Facebook-Profil des Toten oder gründen eine Facebook-Gruppe.
Wir sind jedoch weit davon entfernt, eine Kultur im digitalen Umgang mit dem Tod zu entwickeln. Wahrscheinlich wird bald die Anzahl der deutschen Facebook-Profile von Toten siebenstellig sein und wenn Facebook seine Politik nicht ändert, könnte Facebook ein Ort der Trauer werden. Vielleicht dauert es aber auch gar nicht so lange, bis man für jeden Toten bei Google eine schöne Personenansicht findet. Vielleicht gibt es irgendwann Grabsteine mit Webcams, vielleicht wird es doch einen Friedhof in virtual reality geben, vielleicht kann man sogar irgendwann Tote wieder holographisch in sein Wohnzimmer holen oder sie zum Todestag als Sahnetorte aus dem 3D-Tortendrucker drucken lassen. Noch viel wahrscheinlicher aber ist, dass der Tot noch weiter aus unserem Blickfeld verschwindet. In der Geschichte wurde die Trauerkultur immer profaner und entritualisiert (vom ausdrucksvollen Grabstein bis zum Urnenhain, von der kirchlichen Begleitung zu einem banalen Redner, von der Jahresfrist des Schwarztragens zu ein paar Tagen gedeckter Farben etc.). Die Toten, die neulich noch am Kirchhof lagen und dann vor den Stadtmauern begraben werden, sie werden irgendwo weit weg liegen. Im Digitalen finden sie gar nicht mehr statt, nur noch als Diamant an der Smartwatch.
Jede Strategie, dem Tod das Besondere zu nehmen, ihn planbar zu machen, ihn zu bezwingen, kann nicht gelingen. Für ominöse Daten-Dienste, die garantiert die Konten löschen, sollte man daher kein Geld ausgeben, sondern davon einmal mit den besten Freunden Karussell fahren.
Lieber Christoph,
jetzt bin ich über mein Blog zu dir gelangt. Ich möchte noch einen „Trampelpfad“ ergänzen: das Kind eines Bekannten baute nach einem tragischen Trauerfall für den verstorbenen Menschen eine Kerze in Minecraft. Das sind vielleicht Vehikel, bis ein anderer (evtl. stärker standardisierter) Umgang gefunden wurde – aber es ist auch das unmittelbare Ausleben im Moment, das keinen Bestand haben muss, sondern ein kleiner Teil von Trauer und damit „heilsam“ ist.
Danke für diesen Text.
N.