Wer ohne Vater war, der sucht sich einen, genauer: den sucht ihm das Leben. Mein Leben hat mir erst einen Stiefvater gesucht, einen Germanisten und Historiker, mit reichem Bildungsschatz, zugleich zutiefst moralisch-unangreifbar und immer ein bisschen in seinem eigenen Leben, das sich vor allem in seinem Kopf abspielte, in dem die Gedanken stritten, bevor sie wohlformuliert und kenntnisreich aus seinem Munde sprudelten, die Augen dabei immer lebendig. Viele Jahre später sind mir dann andere Männer begegnet, immer deutlich älter, die wie Wegweiser an meinem Wegesrand standen, mich zum Anhalten bewegten und in Richtungen zeigten, manchmal auch verschlüsselt.
Frank Schirrmacher war einer von diesen Wegweisern und ich bin über seinen Tod verstört und traurig. Die erste Begegnung kam 2007 völlig überraschend, als mich der damalige Verlagsgeschäftsführer zu einem Vortrag ludt, der allerdings in einem Arbeitskreis der Redaktion stattfinden sollte, und so hieß es eines morgens kurz vor neun in der Frankfurter Hellerhofstrasse, mein Vortrag fiele aus. Stattdessen möge ich in die Herausgeberkonferenz im Taunuszimmer kommen, die Herren warteten schon. Zwei Minuten später stand ich vor Frank Schirrmacher, der mich freundlich begrüsste mit den Worten: „Halten Sie Ihren Vortrag hier. Wir Herausgeber wollen schon die ersten sein, die hier die Berater in der Redaktion sehen“. Ich hatte keine Zeit, mir Sorgen um das Misslingen zu machen, und so gelang das Kunststück wohl, denn es wurde eine ganze Serie von Taunuszimmer-Vorträgen daraus. Über den Inhalt dieser Veranstaltungen muss ich Schweigen. Mir ist aber wichtig zu sagen, dass F.S. derjenige unter den Herausgebern war, der die digitalen Angelegenheiten ganz besonders vorantrieb, soweit es unter den gegebenen Entscheidungswegen möglich war. Es muss ihm wehgetan haben, auf Twitter täglich von Unwissenden um seine Rolle angegriffen zu werden, und man konnte es an seinem Rückzugsverhalten auch sehen. „Ich mache das nicht mehr gerne“ sagte er 2013, nachdem er noch 2011 hier auf Google Plus mit mir und vielen anderen auf Google Plus diskutierte. Das Publikum hatte nicht verstanden, dass er – soweit er es zeigen konnte – kraft seiner Neugier und Offenheit eigentlich dem neuen Medium recht zugeneigt war. Als „Digerati“, wie es im Nachruf der SZ heisst, sehe ich ihn nicht, er hat sich des Themas wie vieler anderer Themen in seiner Geschichte angenommen und es zu Sinn („Narrativen“ würde man wohl neuerdings sagen) verarbeitet, ohne sich mit den Details der kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zu befassen. Sein Misstrauen galt Beratern – wie ich später erfuhr, aus eigener F.A.Z.-Erfahrung und völlig zu Recht – und ich weiß nicht genau, ob er nicht auch in mir einen dieser Berater oder einen von den Seinen gesehen hat. Argwöhnisch und neugierig zugleich verfolgte er das Carta-Projekt, wobei er dem inzwischen auch verstorbenen Gründer Robin Meyer-Lucht einerseits nach seiner vollmundigen Ankündigung in der NZZ, mit Carta 2 Mio Menschen erreichen zu wollen (einschliesslich investigativen Journalismus) hohen Respekt zollte, dann aber Meyer-Lucht am Ende eines Beratungsauftrags de facto Hausverbot erteilte. Das hat „RML“, wie wir ihn nannten, wohl gekränkt. Nach seinem Tod schrieb ich diesen Nachruf im Feuilleton, der heute ganz seltsame Parallelen zeigt: Wenn Meyer-Lucht schon „Ein Meister der Debatte“ war, so war F.S. der Großmeister, der nicht nur eine Plattform bot, sondern die Debatten zugleich strukturierte – und das in vollem Bewusstsein seiner Macht. Intellektuell, aufgeweckt, lebhaft bis streitlustig, wie ich Meyer-Lucht dort beschreibe, das war auch Schirrmacher, und es ist im Nachhinein ein Unglück, dass der Debattenpapst Schirrmacher und das notorisch in Ressourcenmangel befindliche Carta-Projekt nie zueinander fanden.
Aktuelle Projekte im Online-Journalismus wie die Krautreporter könnten daraus lernen. Ein einziger Mißton teilt die Welt in Lager und versperrt Zusammenarbeit, wo sie fruchtbar wäre. Und verlagsferne Online-Projekte werden stärker beobachtet als viele Projektbetreiber ahnen. Die Empfehlung von F.S. zu Beginn der Crowdfunding-Kampagne, die Krautreporter zu unterstützen, war zugleich so typisch für seinen Kommunikationsstil. Einerseits sicher ernst gemeint, aus innerer Überzeugung, zugleich aber auch eine Gnade, die sich nur Könige erlauben. Diese zweite, manchmal auch humoristische Ebene, schwang bei seiner Art zu kommunizieren des öfteren mit.
Als mich F.S. nach diesem Google-Stück anrief und mir begeistert vorschlug, ich könnte eine wöchentliche Print-Kolumne im Feuilleton gewissermaßen befüllen, nahm die Geschichte eine neue Wende: Der verantwortliche Redakteur verhielt sich sichtlich sperrig, ohne mir Gründe außer Platz- und Zeitmangel zu nennen. Und so versandete die Geschichte nach einem einzigen Beitrag („Wir können Google beherrschen“ http://www.faz.net/aktuell/2.1649/wir-koennen-google-beherrschen-1971649.html) und ich war unterdessen froh, von diesem Produktionsdruck verschont zu werden. (Spätere Internet-Texte, darunter auch ein google-kritischer, erschienen dann im Ressort Technik und Motor, einem Ressort eines anderen Herausgebers. Heute schreibe ich nicht mehr für die F.A.Z.).
In einigen weiteren Kontakten, zuletzt ging es um die Buchbranche, habe ich ihn als neugierig und offen erlebt. Seine Fähigkeit zu radikalem Denken (im Sinne von radix), wie etwa bei der Forderung nach einer europäischen Suchmaschine, hat mich trotz ihrer ökonomischen Fragwürdigkeit sehr beeindruckt. Vielleicht gerade deswegen, weil er als Mann des Geistes wirtschaftlichen Denkfiguren gegenüber wenig aufgeschlossen war, im Geiste der Frankfurter Schule im Kern ein Wirtschaftsskeptiker war und als Organ der FAZ – von einer Stiftung getragen – auch gar nicht einem wirtschaftlichen Zielsystem (siehe Satzung der FAZIT-Stiftung) oder gar einer operativen wirttschaftlichen Methodik ausgesetzt war. Den Tag, an dem ich harmlos fragte, wie er denn ohne Datenbank sich die Themen merken könne, werde ich nie vergessen, denn er witterte hier sofort, dass man mich geschickt habe, um Planstellen in der Redaktion zu reduzieren. Viele Debattenbeiträge habe ich unter der Überschrift eines Primates der Ethik gegenüber der Wirtschaft verstanden, ohne dass es hier zu echtem Dialog gekommen wäre. Der Vorwurf des „Kulturpessimismus“, dem er immer wieder ausgesetzt war, hat ihn wohl immer wieder getroffen, weil er für einen Intellektuellen seines Formates eigentlich nicht satisfaktionsfähig (lies: für eine inhaltliche Auseinandersetzung unbrauchbar) war. Ich habe es immer sehr bedauert, dass es zwischen den Funktionseliten so wenig geistigen Austausch gibt, und so sehr ich den Pluralismus der F.A.Z.-Ressorts als Leser schätze, so sehr hat diese Trennung der Welten mich auch immer gestört: Weder haben Internetunternehmen die Fähigkeiten, die sie lauthals versprechen, noch haben sie dunkle Antriebe, die einige Kulturschaffende gern finden. Bei unseren Diskussionen war denn auch seine Geduld recht schnell am Ende, sich mit den Tiefen etwa der Künstlichen Intelligenz zu befassen. Lieber vertraute er abstrakten Aussagen, die er Köpfen wie David Gelernter zuschrieb, und auf den er grosse Stücke hielt (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitales-denken/david-gelernter-der-mann-der-das-world-wide-web-erst-moeglich-gemacht-hat-1936461.html), und ich stellte leider erst hinterher fest, dass Gelernter eigentlich ganz meiner Meinung war (zum Beispiel hier im SpOn). Diskussionen mit ihm konnten mich manchmal sehr verstören, weil er dem Argumentationsfaden nicht folgen wollte und seine Domäne nicht verließ, und so standen wir manchmal einander argumentativ gegenüber wie zwei aus fremden Sphären, die sich beobachteten – wobei ich keinen Hehl daraus mache, dass er viele, sehr viele beobachtete und wohl auch beobachten ließ, um Talente fischen zu gehen. Das Netz ist voll von Geschichten von Gefischten und Gefallenen; mancher hat davon profitiert, mancher ist verbittert – und immer, das habe ich von mir gelernt, ist die FAZ auch eine große Projektionsfläche, der man als erwachsener Mensch nicht verfallen darf. In der Woche, in der ich mich auf 52 Wochen mit Kolumnen vorbereitete, wurde mir schlagartig klar, auf welch hohen Sockel ich die F.A.Z. gestellt hatte, und dies hat auch damit zu tun, dass mein Stiefvater sie immer mit grosser Andacht las und tagelang ein Lächeln im Gesicht trug, wenn die F.A.Z. einen seiner Leserbriefe abdruckte, in denen er seine Bildung auf geschätzt 1.200 Zeichen komprimierte.
Für mich, da habe ich ganz die Perspektive des Internet-Narzissten, war F.S. eine wichtige Figur, die mir Orientierung bot. Dass er mich vor ein paar Monaten wegen eines rotzigen Anti-Morozov-Tweets entfolgt hat, nehme ich ihm übel wie ich einem Vater eine ungerechte Strafe übelnehmen würde – eigentlich gebührt mir die nächste Doppelseite über eine Kränkung. Seine Sprachgewandtheit hat mir manchmal den Atem stocken lassen und seine Fähigkeit, Fäden durch Themengewölle zu finden und fortzuspinnen, war grandios. Auch wenn wir uns nicht immer einig waren und ich noch vor ein paar Tagen irritiert war, dass er ausgerechnet Jaron Lanier zum Miterfinder des Internets und im Grunde damit den 3D-Bock zum Buchstaben-Gärtner erklärte (zu Lanier hier im Merkur-Blog), was F.S. und seine Fähigkeit zur großen Linie aber auch sympathisch macht, so verneige ich mich posthum vor seiner Person mit seinem Scharfsinn, seinem Gespür für Themen und seinem Charme, den er haben konnte. In einer Welt, die immer komplexer wird, brauchen wir mehr Menschen mit dem Willen, Überblick zu schaffen, zwischen den Welten zu denken und Geschichten zu erzählen – und nicht einen weniger, einer von seinem Format ist wirklich ein Verlust.
Danke für den tiefen Einblick und die Worte, so ganz ohne Pathos.
Ich habe Frank Schirrmacher nur einmal live erleben dürfen: 2009 war das, in meiner Wahlheimat Gotha, tief im grünen Herzen Thüringens. Da plauderte er locker, geistreich. Er war geladen, aus seinem „Methusalem-Komplott“ zu lesen. Das tat er aber nur die ersten 5 min. Dann redete er frei. Schirrmacher vermochte es, das zunächst abwartende Publikum zu aktivieren. Uneitel sein enzyklopädisches Wissen nutzend, choreografierte er eine kontroverse, herzerfrischende Debatte.
Es war eindrucksvoll und ich habe dabei viel gelernt.
Wie groß der Verlust ist, ich fürchte, das werden wir erst richtig in den kommenden Monaten und Jahren spüren.
Ohne ihn auf einen Sockel heben zu wollen – er hat Maßstäbe gesetzt.