29.09.2010

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Internet-Evolution (ZEIT-Online)

Der folgende Text ist auf ZEIT Online erschienen:

Ich fürchte, wir haben das Internet versehentlich falsch benannt. Interconnected Networks sind es noch immer, aber es sind nicht die Netzwerke, sondern über 700 Millionen Host-Computer, die im Internet Informationen für schätzungsweise 2 Milliarden PCs verarbeiten, darunter wohl 1 Milliarde von ihnen in Jackentaschengröße, die wir – ebenso versehentlich – seit Anbeginn als Telefone bezeichnen.

Interconnected Networks ist eine deskriptiv-technische Sicht, welche die Funktion eines Au­tomobils so gut beschreibt wie die Bezeichnung als Räder mit Verbindungund genauso un­zutreffend war die schöne Datenautobahn. Die verbreitete Vorstellung von Connected Com­puters zielte zwar immerhin auf die Computer als Netz-Knoten, doch entspräche diese Bezeichnung dem Motor-Wagen, den unsere Sprache wohl zu Recht durch die Funktionsbezeichnung Auto­mobil ab­gelöst hat. Was also ist die entsprechende Funktionsbezeichnung für das Internet, wie können wir es greifen? Noch Mitte der 90er hätte keinen Wider­spruch erregt, wer das Internet als großen digitalen Weltspeicher verstanden hätte, ein Me­dium oder genauer: einen Medienträger, der andere Medien transportieren und de­ren In­halte speichern kann, hauptsächlich Seiten und nebenbei schon lange auch Briefe und Daten. Dann er­leichterten eCommerce, eBanking und eGovernment vielen den Alltag, doch was damit ge­schah, war der Anschluss des Internets an Transaktionssysteme von Unternehmen, in der Wertschöpfungskette nach vorn zum Kunden, aber auch nach hinten, zu Lieferanten. Eine weitere Funktionsschicht kam hinzu: Erstens trat zur eMail die Telefonie hinzu und zweitens entwickelte sich die zwischenmenschliche Web-Kommunikation, zuerst nur als Annex-Kom­mentare zu anderen Inhalten, sodann mit eigenständigen Inhalten in Blogs, und nun in sozia­len Netzwerken wie Facebook, die auf die Abbildung jeglicher Art digitaler Kommunikation zielen – Facebook hat heute schon in den USA mehr Seitenabrufe als Google, baut an einem ausgefeilten Mailsystem und wird in zwei Jahren die Milliarden-Nutzer-Grenze über­schreiten.

Das „Ding“ verbindet längst nicht nur Computer, sondern Menschen miteinander. Was wir heute „das Netz“ nennen, vernetzt Menschen in aller Welt: der Mankind Connecting Cluster ist da. Das ist nicht nur an der Oberfläche so, bei der – vereinfacht gesprochen – Tweets in Google, Youtube-Videos in Blogs, Tweets aus XING, soziale Beziehun­gen in Google und alles wiederum in Facebook zu finden sind, ein großes Mashup. Diese Entwicklung findet auch seit Jahren ihr technisches Pendant unterhalb der Oberfläche: Web Services ermöglichen den Datenaustausch zwischen Computern, darunter auch menschenlesbare Inhalte (RSS), soziale Beziehun­gen (soziale Graphen) und neuerdings auch Adressen, Veranstaltungen und Kommentare. Diese werden so zwischen den Systemen ausgetauscht, dass man diese Daten nur irgendwo in das „Ding“ geben muss, damit sie überall erscheinen. Beide Sichten sprechen dafür, dass wir neben der Vorstellung, dass auf einer Mikroebene Information, Transaktion und Kommunikation durch Milliarden von Central Processor Units geleistet werden, die Vor­stellung entwickeln müssen, dass auf einer Makroebene eine einzige Decentral Multi-Processor Unit die Arbeit macht, zumal deren Teile dank technischer Virtualisierung so in die Cloud wandern, dass deren physischer Ort bedeutungslos wird.

So ist also das „Ding“ in jeder Beziehung auf dem Weg zu einem großen Ganzen. Dies gilt nicht nur von seiner äußeren Erscheinung und seinen inneren Strukturen her: ein Strom vieler Informationen, die sich – zum Teil in Echtzeit – wie das Wasser teilen, verändern, verbinden und sich in Suchmaschinen, Aggregatoren und große Plattformen gewissermaßen ergießen, von wo sie dann wiederum in aggregierter Form wieder in das System fließen. Nichts anderes geschieht auf der Ebene der Nutzerströme: Mit Traffic-Deals bauen Betreiber untereinander Bewässerungssysteme, die Linkökonomie, um den Nutzerstrom auf ihre Mühlen zu leiten. Ökosysteme aus Websites zu Themen wie „Reise“ entstehen, zwischen denen Traffic fließt, der diese Websites mit Attention und Payment ernährt, indem er von professioneller Hand kaum sichtbar geleitet wird. Aus der Perspektive der Informations- und Verkehrsströme ist ein System entstanden, das wie in den Bildern aus Koyaanisquatsi einerseits aus einzelnen Men­schen und Automaschinen besteht, und andererseits übergeordnete, fließende und pochende Strukturen aufweist. Ist also der Mankind Connecting Computer MC2 der nächste evolutionäre Schritt nach der Formel E=mc2, ein EinHirn, geschaffen von uns? Dem wir Wissen beibringen, an das wir immer mehr anschließen, das einerseits Google mit StreetView das Sehen lernt, während es sich andererseits mit Augmented Reality an unsere Netzhaut heftet, vielleicht sogar mit LED-Kontaktlinsen? Dem zudem NASA und GM mit dem Roboter R2 gerade das Greifen der physischen Realität beibringen und das diese physische Realität dank Video-Objekterkennung militärischer Drohnen auch erkennt? Das in einigen Jahren auch – Googles neuester Idee sei Dank – unser gesproche­nes Wort in Fremdsprachen übersetzt, so unsere babylonische Spaltung überwindet und sich derart als Bindeglied zwischen den Mündern und Ohren der Menschen verschiedener Sprachgebiete platziert, auf dass wir nach dem Kopfrechnen auch irgendwann Fremdsprachen verlernen und von MC2 abhängig werden?

Mein Weltbild lässt das nicht zu, zu sehr liegen die Gegenargumente auf der Hand. Weil die­ses Ding keine Identität, keine Seele und keinen Willen besitzt, sondern eine deterministi­sche Maschine ist. Weil es nicht unmittelbar handelt – außer durch uns, die wir uns von ihm leiten lassen könnten. Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass seine physischen Tentakel authentisch sin­gen, lachen und musizieren können – wenngleich, wie wir aus der Roboterforschung wissen, wir das eines Tages verwechseln könnten. Und weil ich mir nach 25 Jahren Informationstechno­logie bis zur Bit-Ebene sicher bin, dass es nur das tut, was wir ihm bei­gebracht haben – und das auch noch mit Fehlern. Aber es ist Realität, nicht rein „virtuell“ und spätestens mit dem Internet of Things und Ambient Intelligence mehr als eine „zweite Schicht“. Vielleicht ist es wie der Strom, der inzwischen überall ist und uns von körperlicher Arbeit zunehmend befreit. Aber vielleicht erkennen wir auch den nächsten Schritt nicht: wie der Fisch, der vom Laufen nicht wusste, und wie der Archosaurier, der den Flugsaurier nicht kannte. Und auch der Affe ahnte vermutlich nicht, dass wir ihn Jahrtausende später im Zoo ausstellen würden.

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