Über Gemeingüter und Privateigentum, über Open und Closed Source wird zum Teil erbittert gestritten. Dieser Text zieht eine große Linie von der untergegangenen Allmende-Kultur hin zu heutiger Software-Engineering-Kultur von Open Source, die auch für Wirtschaftsunternehmen förderlich wäre. Mehr noch, der ständige Austausch von und über softwaretechnische(n) Artefakte(n) ist eines der wichtigsten Merkmale des Silicon Valley. Wo diese Kultur nicht selbstverständlich ist, steht der Umsetzung vor allem der gedankliche Dualismus von unterfinanziertem, und ethisch gutem Open Source auf der einen und „Raubtier“-Kapitalismus auf der anderen Seite im Weg.
Commons als soziale Urstruktur
Eine neue Kolumne, die sich auch an Wirtschaftsmenschen richtet, ausgerechnet über die Commons zu schreiben, ist schon eine etwas verrückte Idee. Commons, das sind Gemeingüter, die jeder unentgeltlich nutzen kann. Ihr Prototyp ist eine gemeinschaftlich genutzte Wiese oder Weide (Allmende). Gemeingüter stehen in niemandes oder in Gemeinschaftseigentum, ihre Nutzung erfolgt unentgeltlich und diese Nutzung ist meistens auch nicht rechtlich und schriftlich, sondern sozial und informell geregelt. Ein modernes Beispiel, das jeder kennt, sind Pilze im Wald. Jeder nimmt sie, und es gibt einige wenige Regeln, an die man sich zu halten hat; vor allem reißt man sie nicht mitsamt Wurzel heraus, weil das allen Pilzsammlern schadet.
Gemeingüter sind also auf den ersten Blick ein Gegenmodell zu einer privatwirtschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die viele „Kapitalismus“ nennen. Auf den zweiten Blick ist diese verbreitete Auffassung aber ein Kategorienfehler, denn Gemeingüter sind kein Gegenmodell, sondern einfach nur anders, und sie können gut neben privatwirtschaftlichen Formen von Eigentum existieren. Dass die eine Sache von allen genutzt werden darf und eine Person über die andere Sache die volle Herrschaft hat, ist kein Widerspruch und kann sich wirtschaftlich ergänzen.
Der Untergang der Gemeingüter an Dingen
Wenn sich jeder an einem begrenzten Gut bedient und es hierzu keine Regeln gibt, geht ein Gemeingut unter (sogenannte „Tragödie der Commons“, ein Diktum von Garret Hardin 1968, ähnlich dem Trittbrettfahrerproblem, wenn öffentliche Güter ohne Gegenleistung genutzt werden). Gemeingüter an Dingen und Grundstücken spielen heute keine nennenswerte Rolle mehr, weil das Eigentum als Institution die mitunter zerstörerische Über- und Unternutzung besser verhindert, indem es den Eigentümer für zuständig erklärt, sich um die Sache zu kümmern (Haftung, ggf. Steuern), ihm aber auch Rechte gibt (Übertragung, Sachnutzung und -besitz, selbst oder delegiert an Dritte). Bei Bedarf kann eine gemeingut-ähnliche Nutzung durch Miteigentum mehrerer Menschen oder durch Eigentum einer Organisation geschaffen werden, an der mehrere Menschen beteiligt sind (Fuhrpark in Genossenschaften, Geräte in Vereinen etc.). Eigentum glänzt einerseits durch Ordnung der Beziehungen, wirkt also einer Verantwortungsdiffusion entgegen, und andererseits durch eine Vielfalt der Nutzungsordnungen, so dass es die Gemeingüter in ihrer Reinform praktisch verdrängt und durch komplexere und formellere Konstellationen ersetzt hat. Das kann man politisch verurteilen, aber die Rückkehr der Gemeingüter kann meines Erachtens nur in der Nische kleiner sozialer Gemeinschaften geschehen, wenn es um Sachgegenstände geht. Wer die „Sharing-Economy“ heute bei AirBnB & Co feiert, übersieht die wesentlichen Unterschiede, nämlich Privateigentum, strenge Normierung, Geldtausch.
Wissen als Gemeingut
Anders aber, wenn es nicht um Dinge, sondern um Wissen geht. Wissen wird, ist es erst einmal in der Welt, nicht knapp und seine Bereitstellung kostet praktisch nichts. Nehmen wir das kleine Einmaleins, die zehn Gebote und Begrüßungsfloskeln, all dieses überträgt sich kulturell. Mein Lieblingsbeispiel ist das Steinmännchen, mit dem Wanderer den Weg kenntlich machen, indem sie Steine aufeinanderstapeln. Das Steinmännchen repräsentiert Wissen über den Weg. Jeder tut ein bisschen, profitiert aber auch vom anderen – und das ohne große Gesetze, sondern einfach durch soziale Übung.
So wie das Steinmännchen funktionieren auch digitale Wissensgüter, allen voran die Wikipedia, aber auch gemeinsam gepflegte Tag-Clouds (Stichwortwolken), Hashtags, Linklisten, Rezensionen und Kommentarspalten.
Zwei zusätzliche Sonderfälle fallen auf:
1. Zum ersten sorgen digitale Plattformen dafür, dass unser Handeln ein Anhaltspunkt für Dritte ist, etwa wird sichtbar, wer in ein Restaurant eingecheckt hat oder was andere gesucht haben (Autovervollständigung bei Google). Hier wird Verhalten zu sozialen Signalen verdichtet, die jeder nutzen kann, auch Facebook ist so ein Fall, wo sich Ortsseiten und Filmempfehlungen finden. Jedoch legt faktisch nicht die Gemeinschaft durch Tun, sondern ein Plattformbetreiber die Regeln fest, und er zieht aus seiner Stellung auch monetären Vorteil. Wahrscheinlich polarisieren Plattformen wie Facebook auch deswegen so: Was die einen für eine Allmende halten, auf der sie kostenlos weiden, ist den anderen eine Weide, auf der alle von der Plattform gemolken werden.
2. Zum zweiten haben wir selbst dort, wo Wissen durch das Urheberrecht monopolisiert wird, Wege gefunden, dieses Wissen wieder zum Gemeingut zu machen: zwar sind Texte ab einer gewissen Schöpfungshöhe geschützt, aber Nachrichten sind für alle frei, auch wenn wir mit Aufmerksamkeit zahlen. Alle Versuche, sie mit „Paid Content“ zu kontrollieren, müssen scheitern. Was im Überfluss wie Jesus´ Brot und Fische existiert (und zu kopieren immer schon erlaubt war!), wird auch nie etwas kosten.
Digitale Gemeingüter
In der digitalen Welt lohnt es sich erst recht, sich mit Gemeingütern zu befassen. Zum einen ist die These von der Koexistenz von Gemeingütern und Kapitalismus eigentlich schon damit bewiesen, dass die Wikipedia widerspruchsfrei neben Verlagsprodukten steht – ja, beide Rechtegattungen referenzieren und zitieren sogar einander. Zum anderen nimmt nach meinem Eindruck das sog. „freie“ Wissen durch die Jedermann-Verschriftlichungsmöglichkeiten des Internets dramatisch zu. Was ich als Kind etwa noch als Buch erwerben musste (zum Beispiel elektronische Schaltungen und Formelsammlungen), ist heute in großem Umfang frei und kostenlos. Hinzukommt, dass das Urheberrecht zwar einzelne Texte schützt, nicht aber den Inhalt selbst, wie beispielsweise an Rezepten zu sehen. So darf vieles Wissen zwar in seiner Repräsentation (dem Text) nicht kopiert werden, es steht aber zur Interpretation und Anwendung zur Verfügung und es kann rechtefrei neu formuliert werden.
Open Source als Gemeingut
Open Source, nämlich im Quelltext bereitstehende und ohne Beschränkungen oder Zahlungen nutzbare Software – also die Softwarevariante von Gemeingütern – kommt nicht immer nur durch das lose Zusammentreffen von Programmierern gleichen Interesses zustande. Natürlich ist das eine angenehme Kultur des Austausches, bei der die Sachlösung mehr als Geld im Mittelpunkt steht und gewisse Transparenz herrscht. Aber Open Source muss keineswegs ideologisch überhöht werden, wie es die Wikimedia gerade gemacht hat, indem sie ihre Libido an Algorithmen heftete. Open Source kann auch ein strategisches, absichtsvoll eingesetztes Mittel sein, die Stellung von Monopolisten und anderer übermächtiger Player zu brechen, Googles Android gegen Apples iOS und Mozilla gegen Microsoft Explorer zeigen es. Dabei können allerdings in der Praxis komplexer Softwareprojekte einige Teilnehmer durchaus gleicher als andere sein, etwa weil sie Gremien dominieren, Rechte einbringen, Ressourcen finanzieren, Bedingungen auferlegen. Ausgerechnet die zotteligen, alten Gemeingüter sichern also den Wettbewerb in einem Sinne, an dem der Ordoliberale Walter Eucken seine Freude gehabt hätte. Andererseits verabscheuen Open Source-Evangelisten solches Vorgehen zutiefst, weil es gegen die reine Lehre verstößt, gutes mit Open Source für eine fiktive „Gemeinschaft“ zu tun. Tatsächlich liegt die Wahrheit wohl eher in der Mitte: auch Open Source geschieht nicht in machtfreien Räumen und Entwicklung wie Gebrauch sind nicht interessefrei. Mein Eindruck ist, dass Unternehmen zur Open-Source-Bewegung auch viel beigetragen haben (jetzt wird es leider etwas it-fachlich: etwa hat Oracle Linux gepusht, damit es die Sun-Hardwarebudgets für Oracles Datenbank frei werden, und Google hat von mySQL den Branch „MariaDB“ gefördert, während ebay Magento etwas stabilisiert hat).
Open Source als gemeinsame Abwehrstrategie
Open Source kann aber auch eine Gemeinschaftsentwicklung sein, damit eine Gruppe von Wettbewerbern ihre Position verbessert. Aber warum sollten ausgerechnet Wettbewerber zusammenarbeiten? Nun, Computer sind in klar getrennten Schichten aufgebaut, wonach Layer sich auf Layer schichten, ganz unten Hardware, darüber Protokolle, dann Betriebssysteme und Anwendungen (vereinfacht gesagt – und das gab es auch vorher schon, zum Beispiel bei Schienen und Eisenbahnen). Es ist daher auf einem Layer Kooperation und einem anderen Layer darüber Wettbewerb möglich. Und nun kommt wieder Open Source ins Spiel, wenn etwa Teilnehmer eines Marktes sich in einem disruptiven Wettbewerb befinden (das in Laber-Verdacht geratene Modewort „disruptiv“ sehe ich als wirtschaftlichen Fachbegriff für Aktivitäten, die Wertschöpfungsketten oder Geschäftsmodelle verändern). Diese Teilnehmer können nämlich Ressourcen aufwenden, um bestimmte Layer gemeinsam zu entwickeln. Ein ganz einfaches Beispiel wäre eine Bibliothek für Paid Content-Abwicklung, die von allen Verlagen genutzt wird. Als Gemeinschaftsentwicklung kommen die Teilnehmer mit weniger Zeit- und Kostenaufwand voran als einzeln.
Wirtschaft braucht Open-Source-Kultur
Vielleicht ist, entgegen dem Zeitgeist, Software gar nicht das führende Paradigma der Gegenwart, es ist aber anregend, einen Problemkreis mit Software-Paradigmen zu durchdenken. Baut nicht auch Wirtschaft auf anderen Layern auf, welche die Ressourcen bereitstellen, pflegen und versorgen? Diese Annahme liegt für das Wissenschaftssystem und für das Bildungssystem auf der Hand, von denen gutes Wirtschaften abhängt. (Richtigerweise mir man wohl statt von Layern eher von wechselseitigem Einfluss reden, Luhmann´sch strukturelle Koppelung o.ä.). Das man als Wirtschaft einen Teil der Bildung gemeinsam auf die Beine stellen könnte, das ist angesichts dualer Ausbildungen und Public-Private-Partnerships natürlich eine Binsenweisheit. Will man allerdings auf dem Niveau des Silicon Valley um die digitale Weltmarktführerschaft kämpfen, reichen Institutionen und Curricula nicht – vielmehr muss man die Besonderheiten von Software gegenüber etwa dem „Kulturgut Buch“ nutzen. Diese Besonderheit von Software ist, dass (zumeist Verfahrens-)Wissen in Komponenten repräsentiert und maschinenausführbar ist. Die sprachliche Herkunft von Komponente (componere = zusammensetzen) deutet auf gewissermaßen „zusammensteckbare Module“, deren Innenleben man nicht unbedingt kennen muss. So kann hohe Komplexität arbeitsteilig bewältigt werden. Die Besonderheit von erfolgreichen Open Source-Projekten ist, wie die Beteiligten sich selbst dezentral organisieren. Komponenten entwickeln sich evolutionär, sie werden parallel entwickelt, werden Standard, sterben aus. Durch Quelloffenheit können redundante Entwicklungs-Strukturen entstehen.
Standortvorteile durch Kollaboration und Offene Kultur
Open Source ist nicht a priori besser als „closed source“, der Vorteil ist aber, dass mit den Komponenten auch das Wissen in den Köpfen wieder wächst – Open Source ist eine „Ausbildungsbewegung“. Das ist gut in der Arduino-Bewegung oder auch beim Mikrocomputer BBC micro:bit zu sehen, der nun millionenfach an Großbritanniens Siebtklässler verteilt werden wird. Zudem wird kooperatives Verhalten ohne Entgelt eingeübt, was begrüssenswert ist. In der Wirtschaft wäre man daher gut beraten, in Branchen-Wissensdomänen stärker auf gemeinsame Open Source-Projekte zu setzen, weil so auch die Humanressourcen mitwachsen. Der notwendige Wettbewerb unter Gleichen findet dann bei bestimmten Komponenten, auf anderen Layern oder eben durch Konflikte bei der Lenkung von Open Source statt. Man kann heute nicht mehr wie in der frühen Industrialisierung nur Ressourcen wie Zutaten einkaufen, in der nur Bediener für Maschinen gesucht wurden. Heute, wo es auf tiefes Knowhow ankommt und wenige Jahre Vorsprung entscheidend sind, kommt es neben der Institution „Hochschule“ auch auf eine hoch entwickelte Kultur verteilten Arbeitens (Aufgabenverteilung, Qualitätssicherung, Fehlerbehebung etc.) und einen kulturellen Nährboden an, der bereichsübergreifend aus transparenten und robusten Kollaborationsmethoden und Denken von gekapselten Komponenten erfolgt. Zu diesem Miteinander können alle beitragen – auch die Politik mit speziellen Programmen. In dieser Hinsicht ist wohl Software-Engineering mit seinen Prozessen und seiner Kultur hoch-arbeitsteiligen Zusammenwirkens auch das am weitesten entwickelte und daher führende Paradigma für alle Bereiche der Wissensarbeit.
Dieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung des gleichnamigen, zuerst in MERTON, dem Magazin des Stifterverbandes der deutschen Wirtschaft, erschienenen Textes.