31.07.2012

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Internet und Kopie (Erklärbärtext)

Immer wieder lese ich über das Internet, es bestünde im Kern aus dem Kopieren von Daten. Dies wird bei der Diskussion um Urheberrecht gern angeführt und es taucht bei der Diskussion um Internet und Vergessen ebenso auf, indem auf die „Speicher“-Eigenschaft als (kollektives) „Gedächtnis“ und ähnliches hingewiesen wird.

Ja, Computer kopieren Information untereinander, aber ist das wirklich der Kernprozess? Ich glaube, das ist bestenfalls die halbe Wahrheit.

Kopieren ist der WICHTIGSTE Vorgang in einem NETZWERK, weil Information von einem Computer A zu einem anderen B kopiert wird, damit B diese Information weiter verarbeiten kann. Das Kopieren ist vordergründig das erste Ziel aller Vernetzung. (Und sei es nur zur Anzeige auf dem Bildschirm: früher auf Terminals, heute auf PCs, so dass eine Kopie an einem anderen Standort betrachtet werden kann, die Startseite eines Nachrichtenportals zum Beispiel.)

So trivial es ist, es sind trotz allen Kopierens auf kaum einem Computer dieselben Daten. Es wird also nicht alles kopiert. Vielmehr wird manches kopiert und manches nicht, und das ist ein SELEKTIONSVORGANG, der mindestens ebenso wichtig ist wie der Kopiervorgang. Durch Selektion trennt sich das Verstehbare vom Unverstehbaren (je nach Fremdsprachen zum Beispiel), das Relevante vom Irrelevanten, das Wertvolle vom weniger wertvollen und es trennt sich das bloss vorhandene vom „zuhandenen“, das ich greifen und für mich benutzen kann (frei nach Heidegger). Diese Selektion nehmen wir Menschen vor, indem wir URLs aufrufen und auf Schaltflächen klicken, bestimmte Mails weiterleiten und manche Bilder auf Facebook posten. Es nehmen aber auch Systeme des Internets diesen Selektionsprozess für uns wahr, Suchmaschinen zum Beispiel und Aggregatoren. Mehr noch: Information wird nur auf der kleinsten Betrachtungsebene zwischen A und B kopiert oder nicht kopiert, aus einer höheren Warte – beispielsweise bei einer Nachricht im Laufe eines ganzen Tages – findet ein komplexer Prozess mit sehr vielen Schritten und Beteiligten statt. Information wird in der digitalen Welt verdichtet, angereichert, aufgewertet, verstümmelt oder so aus Kontexten entnommen, dass sich der Sinn für den Empfänger ändert. Das erzeugt, wie man täglich an hundertfach modifizierten dpa-Meldungen beobachten kann, eine große Vielfalt verschiedener Texte und damit eben nicht hundertfach dieselbe „stumpfe“ Kopie. Das ist vielleicht ein Ergebnis des digitalen Zeitalters: Indem alle Meldungen jedermann zugänglich sind, besteht überhaupt erst Grund zur Abweichung. Mit beinahe jedem Kopiervorgang steht also implizit auch fest, was NICHT kopiert wird, und dieser Selektionsvorgang schafft überhaupt erst informatorische Unterschiede zwischen Systemen (mein PC hat andere Musik als Deiner) und Sphären (ich habe andere Musik als Du) – die Vielfalt steigt.

Und der Zweck von Computern ist häufig nicht nur die Kopie, sondern RESULTATE zu erzeugen. Zum Beispiel RECHNEN sie – der wichtigste Vorgang des COMPUTERS ist der ALGORITHMUS, also die Anweisung, was zu tun ist. (Eine Handlungsvorschrift aus endlicher Zahl an Schritten, http://de.wikipedia.org/wiki/Algorithmus). Handlungsvorschriften ÄNDERN einen Zustand, zum Beispiel einen Ergebniswert in einem Prozessorregister, eine Scheibe auf den Türmen von Hanoi, einen Saldo eines Girokontos. Mit Computern entsteht Neues, zum Beispiel neue Texte für neue Geschehnisse, neue Berechnungen für noch größere Containerschiffe, neue Animationen für neue Filme, neue Freigabezustände in Workflows. Zweck von Computern ist in diesen Fällen das Erzeugen von NEUEM – und die Kopiervorgänge sind nur ein notwendiger Schritt zu diesem Ziel, nicht aber das Ziel selbst.

KOPIEREN ist also nur der eine Teil der Wahrheit, der andere ist die VERÄNDERUNG. Vernetzte Computer KOPIEREN, VERÄNDERN und schaffen NEUE Information – sie schaffen sogar neuen SINN, wenn sie Kreise oder ganze 3D-Spiele-Landschaften zeichnen oder wenn sie Tweets und Gefällt-Mir-Klicks nach Anweisung zählen und die Zahl daneben anzeigen. Häufig schaffen freilich Menschen und nicht Maschinen neuen Sinn und speisen ihn ins Internet ein, dann ist auch dies ein wichtiger Prozess, das Einspeisen ins System, die Erstkopie (vom Hirn ins Netz, die „Nullkopie“).

KOPIEREN, VERÄNDERN und NEUES zu schaffen ist auch das, was Menschen tun. Wenn wir Wissen weitergeben, Witze erzählen und Meme weitergeben, dann kopieren wir nicht nur Information, sondern wir verändern sie auf vielfältige Weise. Wir tun das auch, wenn wir voneinander lernen, der Erwachsene wie das Kind: die „Kopie“ läuft, guckt, wirft und spricht selten wie das Original, sie übernimmt nicht alles, macht eigene Erfahrungen, guckt von anderer Stelle ab.

LEBEN IST BEIDES: Der Kopiervorgang und die Abweichung. Eine Welt, die nur aus Kopieroperationen besteht, ist TOT. LEBEN ist ein Prozess, der Kopien und Abweichungen erzeugt und dabei nicht innehält. Das macht FORTSCHRITT.

Deswegen ist es wichtig, nicht nur die Kopiermaschine Internet zu sehen, sondern auch die hier genannten, gegenläufigen Erscheinungen, bei denen das Werkzeug ebenso zur Anwendung kommt. Ob das irgendwelche konkreten Erkenntnisse bringt, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall hilft es, das Verhältnis von Menschen als Urhebern und ihrem Werkzeug, der Kopiermaschine Internet, besser zu verstehen. Der Gesamtprozess braucht nämlich beides, die Kopie und die Abweichung, die Kopisten und die Urheber. Wer das eine gegen das andere ausspielt, wird weder menschlicher Kultur noch dem Internet gerecht.

tl;dr: Weder Computer noch Internet kopieren nur, sondern sie unterstützen auf vielerlei Weise eine kulturellen Prozess, der aus Kopie, Veränderung und Schöpfung besteht.

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3 Komentare zu
“Internet und Kopie (Erklärbärtext)”

  1. Fritz sagt:

    Ich finde das Thema brennend interessant. „Kopieren“ als Verbindungstechnik und Weiterentwicklungstechnik. Zufällig gerade gestern hierüber von Sloterdijk gestolpert, der das Dilemma der Moderne beschreibt: „Sorge dafür, daß der Strom der Kopien nicht abreißt, und vermeide es zu kopieren! Folge stets dem Muster und achte immer
    darauf, das Muster nicht zu befolgen!“ – „Kulturen als Trägern von Replikationskompetenz …“

    http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/essay/-/id=9761112/property=download/nid=659852/1ihuoxj/swr2-essay-20120625.pdf

  2. Falk sagt:

    Eben zufällig hierher gekommen. Schöner Text und sehr wichtige Beobachtung!

    Viele Grüße!

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