Was haben Blogger, Terroristen, Julian Assange und die 68er miteinander zu tun? Die WELT erklärt es uns in einem Potpourri beliebter Melodien.
Nein, in Deutschland ist es nicht verboten, seine Meinung zu äußern – es ist sogar erwünscht. Jedem steht es frei, über jeden anderen eine Meinung zu haben – egal, ob er ihn persönlich kennt oder nicht. Dabei darf es keine Rolle spielen, in welcher Form er diese Meinung äußert – ob mündlich oder schriftlich – und an welchem Ort dies geschieht, in einer Kneipe oder einer Zeitung, und zwar auch dann, wenn diese sich zur Qualitätspresse zählt, und erst recht, weil sie sich auf das Grundrecht der Pressefreiheit berufen kann.
Es steht auch nirgendwo geschrieben, daß die in einem derartigen Presseorgan schriftlich geäußerte Meinung über eine Person auf irgendeiner Tatsache beruhen müsste. Und doch hat sich Gerd Held, freier Publizist der Welt, in seinem Kommentar „Herrenreiter-Mythos des frei schwebenden Genies“ diese Mühe gemacht: Das Gesicht von Julian Assange (Wikileaks) erinnere an das von Börsenhändler Jérôme Kerviel, der im Namen seiner Bank fünf Milliarden Euro verbrannt habe und dessen Auftritt vor Gericht man sich merken müsse: „ein starrer Blick, fast autistisch in sich gekehrt,“, „eine fast beängstigende Maschine“, und so habe auch Assange „einen maskenhaften fast abwesenden Gesichtsausdruck“, sein „Gestus (habe) etwas von der kalten Mechanik, die man von den Videobotschaften terroristischer Zirkel kennt.“
Ob solch klarer Faktenlage erübrigt sich jede weitere Auseinandersetzung mit der Auffassung des Autors. Es ist das Gesicht und der Gestus von Assange, der ihn Terroristen ähnlich sehen lässt. Ein formal scheinbar nicht angreifbarer Schluss, denn so wie Assange einen Kopf hat, kennt man dies auch von Terroristen – selbst Klaus Störtebecker hatte einen solchen bis zu seinem Tod. Und doch, der Leser stutzt: Wenn A ein C und B ein C hat, dann ist A ein B? Wie ging der modus barbara? Alle Menschen sind Griechen? Alle Griechen sind Terroristen? Hier stimmt irgendetwas nicht.
Nach dieser Beschreibung der Äußerlichkeiten von Assange werden wir gefragt: „Würde dieser Mann zögern, Informationen über die Operation einer internationalen Schutztruppe zu verraten und damit das Leben vieler Menschen zu gefährden?“ Da wir nicht wissen, ob er zögert, denken wir „Nein“ zum ersten Halbsatz und schließen auf den zweiten Halbsatz, der dem „damit“ folgt. Das ist schnell passiert, zum Vergleich drei Beispiele: „Würde Angela Merkel zögern, den Rettungsschirm zu verdoppeln und damit Europa wieder in das dunkle Zeitalter des 19.Jahrhunderts stürzen?“, „Hätte Gerhard Schröder gezögert, Gazprom zu vertreten und so sein Kanzleramt nachträglich zu mißbrauchen?“, „Würde Hans zögern, seinem besten Freund Klaus ein Taschentuch zu geben, und ihm so eine Influenza verschaffen?“ Man sieht: Hier stimmt etwas nicht. Es gibt keine zwingende Verbindung zwischen „Informationen verraten“ und „Leben gefährden“. Das „damit“ stimmt nicht. Es ist eine Scheinlogik, die auf perfide Art das Vertrauen des Lesers in die Qualität seines Presseorgans ausnutzt. Ganz zu Schweigen von der Sachlage: Denn, so schreibt der Autor ja schon selbst, die Enthüllungen brächten „nichts wirklich neues“. Wie kann trotzdem aus dem Fakt, daß eine Information nichts Neues ist, auf sein Gegenteil, die Gefährdung vieler Menschenleben, geschlossen werden? Dafür braucht es die kalte Mechanik des Gestus von Assange. Was hätte Axel Springer, der Träger zahlreicher israelischer Auszeichnungen, dazu wohl gesagt?
Nicht besser wird es im nächsten Absatz, der so verschwurbelt ist, dass man ihn kaum zusammenfassen kann: Es würden nun Blogger in ihre Laptops tippen, dass von Wikileaks nur die Mächtigen bedroht seien, und diese Blogger würden dabei übersehen, dass durch Zerstörung der Institutionen die Macht nicht verschwinde, sondern „unbegrenzt herumflottiere“; dieses wiederum schaffe unsichtbare und unkontrollierbare Herren der Netze. Dieser Absatz hört sich gut an, aber hält er einer Überprüfung inhaltlich stand? Will Wikileaks alle Institutionen zerstören? Hat im Zusammenhang mit Wikileaks irgendjemand eine „herrschaftsfreie Gesellschaft“ gefordert? Von wem spricht der Autor ganz konkret? Man muß hier einiges auseinanderhalten: Erstens Wikileaks als Organisation („We open the Government“), zweitens Assanges Ziele, die in der Tat wohl auch gegen ein ungerechtes System gerichtet sind (vgl. Josef Joffe, ZEIT Online), drittens “Anonymous”, von denen man wohl nicht genau sagen kann, ob es sich um eine Gruppe gelangweilter 15jähriger Script-Kiddies oder einen auf herrschaftsfreien Dialog gerichteten „Schwarm“ entnannter Personen mit „Not In Our Name“-Wut handelt, die Computersabotage für zivilen Ungehorsam halten. Blogger sind es jedenfalls zuletzt, die mit Wikileaks die Zerstörung von Insitutionen verbinden, und es wäre ein Gebot der Redlichkeit, hier Blog-Ross und -Reiter zu nennen. Nach Blick in Vita und Werke des Autors keimt der Verdacht, daß er Wikileaks mit der Diskussion über den „herrschaftsfreien Raum” der 68er verwechselt. Man möchte fast (stilistische Imitation!) vorwerfen, daß erst Darth Blogger – The Destroyer of all Institutions als Pappkamerad aufgestellt werden muss, um ihn danach erschießen zu können. So einfach geht es jedenfalls nicht.
Geradezu absurd muten die Worte des Autors an, wenn man sich den Anlass des Artikels vor Augen führt. Fakt ist: Julian Assange wurde in London verhaftet, in ein Gefängnis geschafft und einem Richter vorgeführt. War Assange „unsichtbar“ – jemand, der Vorträge hält, in Schweden wochenlang für die Staatsanwaltschaft erreichbar ist und der Presse Interviews gibt? Gibt es mehr Sichtbarkeit als auf Millionen von Websites abgebildet und zitiert zu werden, allen voran die Aufmacher von New York Times, Guardian, Spiegel? Hat nicht gerade die körperliche Verbringung in ein Gefängnis bewiesen, daß Assange nicht „unkontrollierbar“ ist? Gibt es Sichtbarkeit von Intimerem als die durch den Guardian nun in Verkehr gebrachten, herumflottierenden Aussagen einer schwedischen Beischläferin über ihren „worst sex ever“?
Auch in den Folgeabsätzen tauchen mit „Systemauflösung“, „Abschaffen der Hierarchien“ und dem „Schleifen“ der „Institutionen“ wieder Schlüsselbegriffe der antiautoritären Bewegung der 68er auf und werden – ja, auf wen eigentlich? – auf die „Blogger“, „das Netz“ übertragen. In der Systemschleifungsschublade liegen nun also Julian Assange, S21-Gegner und die Blogger. Wir werden hier nicht darauf eingehen, dass am Ende des Artikels noch ein Seitenhieb auf deren vierte Kolonne, die Grünen, erfolgt und die gesamte Stoßrichtung klar wird: „Grüne Blogger sind gegen S21 und gefährden Menschenleben“. Nein, wir schauen uns die Blogger-These noch einmal genauer an. Haben Personen, die man in den Medien als Vertreter einer Netzbewegung wahrnimmt, eine antiautoritäre oder systemfeindliche Haltung, beispielsweise Sascha Lobo, Felix Schwenzel, Johnny Häussler, Markus Beckedahl, Constanze Kurz, um nur fünf aus 50 zu greifen? Schleift man Institutionen dadurch, dass man am politischen Geschehen teilnimmt, in Talkshows diskutiert, mit Politikern kostenlos auf Netzkongressen auftritt, mit Ministerialdirigenten Staatsverträge analysiert, in namhaften Zeitungen für „lousy pennies“ publiziert? Was sich da zeigt, ist ein heterogenes Personengefüge, in dem sich die ganze Palette gesellschaftlicher Grundhaltungen von Ausgrenzung, Teilhabe und Machtanspruch widerspiegelt, immer gepaart mit einem Schuss „konstruktiver Erklärbär“. „Die Netzgemeinde“ ist gerade keine punkige „Anti-Kultur“, und sie hat auch keinen einheitlichen systematisch-ideologischen Unterbau, wie ihn einst die 68er hatten, sie hat keinen Dutschke, keine Strassenschlachten und keinen Ohnesorg – falls es “die Netzgemeinde” denn überhaupt gibt, was angesichts von mittlerweile über 40 Millionen Internetnutzern, 4 Millionen aktiven Internetnutzern und wohl ca. 1 Million aktiven Blogs generell eher eine Mär der Jahrtausendwende ist. Vielleicht gibt es eine gemeinsame Wurzel von Wikileaks und einigen aktiven Netzbewohnern in der Hackerbewegung der 1980er Jahre (Mailboxen, CCC, FoeBud etc.), aber das zu erörtern wäre wohl zu viel der Differenziertheit.
Für die krönenden Abschluss-Thesen des Textes müssen zwei Zeugen benannt werden, und zwar keine geringeren als Max Weber und Niklas Luhmann. Schon Weber habe vor 100 Jahren die Selbstermächtigung der Funktionäre beobachtet, als der moderne Verwaltungsstaat entstanden sei, diese Funktionäre seien wie die „Gewinner“ „diffuser Netze“ eine Schicht in der Mitte, ohne wirkliche Führungskraft. Da ist etwas dran: Permanente „Führungs-Kraft“ in einem Netz ist sehr viel schwieriger zu erreichen als solche in einem hierarchischen System mit periodischer Führungs-Ermächtigung. Wenn es aber doch gelingt, und das ist nicht selten so, kann man es aber, statt es abzuwerten, auch positiv sehen: zu Zeiten Max Webers hätte man auch von Ansehen gesprochen. Denn die Kraft “wirklicher” Führung folgt aus der Person und ihrem Ansehen, das sie durch Sagen und Tun von anderen erwirbt.
Nicht anders die zweite These über „diffuse Netze“, die „ohne fachliche Selbstdisziplin“ sei. Eine „vorpolitische, anmaßende Elite“ ermächtige sich selbst, habe schon Weber erhellend beobachtet. Je länger man über den Aufruf zur Selbstdisziplin nachdenkt, desto fassungsloser wird man: Sollen sich (Netz-)Fachexperten mehr disziplinieren und nicht mehr als Bürger äußern, welche sie zugleich ja sind? Wie steht es dann mit der Selbstdisziplin von Anwälten, Facharbeitern, Maurern und Medizinern? Sollen sie das politische Meinen den freien Publizisten überlassen und auf Rechte aus Art. 5 GG diszipliniert verzichten? Die Ursache für diesen vordemokratischen Unfug ist wieder ein Logik-Fehler im Text: Die Analogie zwischen dem modernen Verwaltungsstaat zu Zeiten Max Webers und dem Erstarken „diffuser Netze“ macht allein der Autor und begründet sie mit keinem Wort. Das ist Pattern-Matching auf höchstem Niveau – ein dunkler, menschlicher Algorithmus entdeckt, dass etwas ist wie etwas anderes, nur irgendwie, und 100 Jahre später, irgendwarum. Auf eine Begründung können wir jedoch getrost verzichten, denn die Analogie ist falsch. Worüber Weber in der unbelegten Fundstelle vermutlich schreibt, ist ein Mangel an Legitimation der exekutiven Elite zur Entscheidung (statt zur Ausführung). Über den Mangel an Legitimation des Bürgers zur politischen Meinungsbildung wird Weber ganz sicher keine Aussage getroffen haben. Bürger brauchen keine „Legitimation“, anders als Beamte, um zu meinen und zu wirken. Und wer etwas anderes behauptet, muss sich vordemokratisch nennen lassen.
Nun kommt als zweiter Zeuge Niklas Luhmann ins Spiel: Hinter der Forderung der vorpolitischen anmaßenden Elite (Schritt 1: Max Weber) nach Bürgerbeteiligung stecke in Wahrheit das Ziel der eigenen Machtvermehrung (Schritt 2: Niklas Luhmann). Das nennt der Autor „Egozentrik“. Nun, Luhmann hat recht, keine Frage! Selbstverständlich beanspruchen Bürger Machtvermehrung, und zwar Netizens, Blogger, S21-Gegner, Wut-Bürger, Sarrazin-Fans, Euro-Skeptiker. Das ist die Volksegozentrik des Art. 20 II GG, zumeist etwas vornehmer Volkssouveränität genannt.
Blättern wir doch ein wenig bei Luhmann, dessen „Politische Soziologie“ jüngst bei Suhrkamp erschien: „Die wechselseitige Entfremdung zwischen Politik und Publikum wird wachsen, wenn die Politik sich auf solche Kommunikationsschranken verlässt“, schreibt Luhmann in diesem Werk der späten 1960er Jahre (S. 287 ff.), und mit Kommunikationsschranken meint er „Kommunikationssituationen, in denen Mißtrauen kein Ausdruck gegeben werden kann – sei es, daß dies … Höflichkeit und Takt verhindern, sei es, daß die Einseitigkeit der Kommunikation über Massenmedien es unmöglich macht.“ Dieses Mißtrauen gegen alles Politische, der schlechte Ruf der Politik, beruhe auf dem „Verdacht, dass die Darstellungen (des Politikers) hergestellt sind und diese Herstellung in einer Art und Weise motiviert ist, die nicht mit dargestellt wird.“ „Die Darstellung muß … kalkuliert, aber die Kalkulation darf nicht dargestellt werden.“ Die „politische Kalkulation“ könne nicht als Motiv dargestellt werden, sondern müsse in der „Sprache der öffentlichen Moral“ ausgedrückt werden. Die Politik setze sich regelmäßig das Ziel Wahlerfolg, und ordne diesem Mittel (Führer, Allianzen, Selbstdarstellung, Werte und Interessen) unter, eine – Luhmann wörtlich – „Pervertierung der normalen Werteordnung“, die allerdings typisches Phänomen aller großen Organisationen und eine „sinnvolle Perversion der öffentlichen Moral“ sei, ohne die Systemkomplexität nicht erreicht werden könne.
So erhellt uns Luhmann doch: Abweichungen des internen Kalküls und von der externen Kommunikation sind systemimmanent im politischen System. Durch Wikileaks werden interne Motive, Kalküle und Einsichten erkennbar, bevor diese in öffentliche (Wähler-)Moral uminterpretiert und in externes Handeln der Politik umgewandelt werden. Deckt sich alles, kann Vertrauen wachsen. Fällt es auseinander, entsteht Entfremdung. Wegen dieses Effekts hat Luhmann bereits vor 50 Jahren gewarnt, dass sich Politik nicht auf Kommunikationsschranken der (unidirektionalen) Massenmedien verlassen darf. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass das Internet alles dafür bieten würde, diese Schranken aufzuheben. Vielleicht also käme Luhmann zu einem anderen Ergebnis als der Autor des Welt-Kommentars mit dem intellektuellen Titel „Herrenreiter-Mythos des frei schwebenden Gehirns“. Aber Luhmann schwebte ja recht frei, genauso wie Max Weber, und seine Worte sind perfekt zurechtgelegt, eine fast beängstigende Maschine.
Dieser Artikel war ein grosses Vergnügen. Er erschien zuerst auf Carta.