14.07.2013

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Vertrauen, Verrat und Schatten – A Letter From Hamburg

Wer Internetkommunikation überwacht, vergeht sich an der Gesellschaft, denn Vertrauen ist grundlegend für jedes soziale Gebilde, mehr noch: Das Wertefundament des Westens schließt eine dauerhaft hohe Kontrolldichte von Menschen aus, weil sie ihnen die Wahl des Guten nimmt und sie dadurch zum Objekt macht.

Es sind nur vordergründig die Überwachung oder die Unverhältnismäßigkeit durch eine falsche Güterabwägung das Problem. Für staatliche Überreaktionen nach dem Trauma von 9/11 kann man Verständnis haben, auch wenn sie zu missbilligen sind; das Appartement der Hamburger Zelle in der Marienstraße 54 existiert, die Geschichte der Täter ist gut dokumentiert und der Ort ist symbolhaft für eine entgleiste Normalität, die hinter ihrer Fassade den Terror verbirgt. Man kann sogar den Schaden und den Nutzen saldieren, in der einen Waagschale unbemerkte Eingriffe, in der anderen verhinderte Terrorakte, auch wenn dazu die Faktenlage doch ausgesprochen dünn ist.

Marienstrasse 54, Hamburg

Marienstrasse 54, Hamburg

Die Heimtücke der digitalen Angriffe

Doch trifft das alles nicht das Besondere des Sachverhaltes. Der Sachverhalt besteht nämlich nicht aus Einzelmaßnahmen, die gegenüber Einzelnen begründet wären, sondern aus massenhaften Maßnahmen, die man gar nicht erst auf Verhalten Einzelner stützt, sondern mit einer abstrakten Gefahrenlage begründet. Das ist die Besonderheit, wenn ein Staat, ohne einzelnen Anlass millionenfach und tagelang die Eckdaten der Kommunikation von Bürgern speichert, denen er gar nichts vorzuwerfen hat.

Wenn Computer Daten aufzeichnen, geschieht es äußerlich ruhig und ohne irgendein Bewusstsein. Vielleicht ist es deswegen für viele Bürger nicht ganz leicht, diesen Vorgang zu bewerten. Es ist aber richtig, darin ein „Abhören“ zu sehen, weil das Aufzeichnen auf einer menschlichen Entscheidung beruht, fortwährende Tätigkeiten erfordert und auch Teil eines komplexen Vorgehens ist, an dessen Ende wieder Menschen stehen, die Zwecke verfolgen. Die stillen und unbeweglichen Maschinen offenbaren also nicht, dass sie Teil einer Handlung sind. Unsere Bilder von menschenleeren Rechenzentren oder Unterwasserkabeln zeigen uns nicht die Heimtücke, die wir im Alltag sonst gut erkennen können, etwa wenn ein Mensch den anderen von hinten bedroht. Dass digitale Angriffe so heimtückisch sind wie biologische Waffen, das müssen wir erst noch emotional erfassen lernen.

Misstrauen erzeugt gesellschaftlichen Schaden

Solches Handeln durch stille und bewegungslose Maschinen zeigt millionenfach Handelnde mit einer Grundhaltung, mit der sie allen anderen begegnen: Misstrauen. Denn diese Handlungen sind sachlich und örtlich kaum begrenzt und haben daher im Vergleich zu beispielsweise Videoüberwachung an Brennpunkten eine andere Qualität. Diese andere Qualität zeigt sich auch dadurch, dass das Handeln unbemerkt erfolgt – anders als Ausweiskontrollen auf der Straße. Man könnte den Schaden, wie eingangs formuliert, in rechtlichen Kategorien von Verletzungen subjektiver Rechte diskutieren. Das wäre wichtig, denn es geht um Eingriffe in Autonomie von Bürgern, die ihr Handeln anders ausrichten werden als ohne Eingriff, das hat auch das BVerfG mehrfach gesagt. Der Schaden ist aber in jedem Fall auch sozialer Natur: ein Gefühl ständiger Wachheit und Anspannung entsteht, wo man sich von Unbekannten beobachtet fühlt und nicht sicher sein kann, was passieren wird. Der Schaden ist gesellschaftlich.

Nicht dass wir immer ganz sorglos sein dürfen, so ist es nicht – natürlich kann uns jeder aggressiv begegnen, natürlich können wir auf der Straße stürzen und natürlich kann es auch im allerbesten Rechtsstaat passieren, dass ein Polizist die Lage falsch einschätzt, den falschen trifft oder einfach nur seine Aggression auslebt, Menschen sind fehlbar.
Aber die besondere Unsicherheit, was mit uns und dem Mächtigsten passieren werde, ist ein besonderer Schaden, denn das Mächtigste ist der Staat, dem wir uns anvertraut haben und dem wir alles Menschenmögliche gegeben haben, damit er diese Macht für uns ausübt: Gesetze, Organisationen, Ressourcen. In modernen westlichen Staaten ist es der Staat, der diese Macht sorgfältig ausbalanciert innehält, und nicht eine Mafia oder Oligarchen oder Militär mit ihren eigenen Interessen. In puncto Macht ist also auch ein Rechtsstaat ein Schwergewicht. Dieses Schwergewicht hält sich durch ausbalancierte und verschränkte Teilbereiche seiner selbst in Schach.

Ein Staat aus Beobachtenden gerät in Dysbalance

Jedermann hofft, dass diese Balance bleiben wird und dass der Koloss nicht doch eines Tages in die falsche Richtung in Bewegung gerät und auf seine Bürger fällt. Mit anlassloser und umfassender Überwachung kann jedoch ein Wissensvorsprung erreicht werden, der die Balance zerstört. Wenn Teile der Exekutive die Oberhand über andere Gewalten erlangen, weil sie Entscheidendes über diese wissen („Kompromate“), wäre dies der Beginn eines Zustandes, den man als Beginn des Zusammenbruchs des Rechtsstaates betrachten muss. Ganz deutlich: Wem Parlament und Gerichtsverfahren wichtig sind, der lässt anlasslose Überwachung nicht zu.

Auffällig ist: Die staatlichen Gewalten beobachten sich gegenseitig und andauernd, das Verfassungsgericht bewertet und kassiert Gesetze, die Legislative wählt und stürzt die Exekutive, die Exekutive ragt mit ihren bürokratischen Routinen in alles hinein, was noch Eigenleben entwickeln könnte, und so weiter. Man könnte daher sagen: Das Prinzip gegenseitiger dauernder Beobachtung ist (neben dem Wahlvorgang und der Kommunikationsfreiheit) im modernen Rechtsstaat funktional verfasst und geradezu sein Erfolgsrezept, das man verallgemeinern müsste. Wenn jeder jeden beobachtet, ist alles sicher. So in etwa ist ja auch das zweite Argument strukturiert, man solle sich über Geheimdiensttätigkeit von Geheimdiensten nicht wundern, wenn man seine Mails nicht verschlüssele, sondern „offen“ verschicke.

Verschlüsselung als DIY-Fortsetzung von Paranoia

Beide Argumente („Beobachtung als Prinzip“ und „Schütz Dich selbst“) berücksichtigen aber die tatsächlichen Machtverhältnisse nicht, sondern bleiben auf einer kommunikativen Ebene stehen. Denn hinsichtlich Macht ist es ein Unterschied, wer wen „beobachtet“ und wer geheim oder transparent kommunizieren muss. Eigenartig unpolitisch ist die Krypto-Fraktion („Verschlüssel doch“), die in Do-It-Yourself-Manier das beste tut, aber ihr eigenes Handeln in eine Kampfhandlung umdeutet, obwohl es eine Unterwerfungshandlung ist. Ein Bürger, der sich zu wehren behauptet, in dem er nach fremden Regeln spielt, ist ein trauriger Bürger. Verschlüsselung taugt nur als zeitweilige Notwehr, wie Gewalt als Akt von Notwehr taugt. Als allgemeines Prinzip setzt sie nur die Paranoia fort, gegen die sie angehen will.

Es verwundert eigentlich nicht, dass diese Argumente von zwei Berufen kommen, deren Kern prozessuale Informationsverarbeitung ist: Juristen und Programmierer. Beide verlieren ihr Vertrauen in Prozesse und Technik erst, wenn man ihnen überraschend auf die Schnauze haut.1 Denn das Gegenteil ihrer Thesen ist richtig: Freiheit im Sinne eines positiven Freiheitsbegriffes ist dort, wo keine Systeme sind, wonach sich Menschen gegenseitig in Schach halten. Und frei ist, wer unverschlüsselt darauflosplappert – eine Obliegenheit zu allgemeiner Verschlüsselung verkehrt die Verhältnisse, indem sie die Pflicht auf das Opfer verlaget. Nach der Logik müsste man auch in anderer Richtung rückwärts um den Straßenblock laufen, auf den roten Hut einen braunen aufsetzen und auf nur einem Bein hüpfen, um damit die Fähigkeit des Gehens anderen zu verbergen. Man kann sein ganzes Leben so einrichten, dass es Unberechtigten per default verborgen bleibt, dann aber nennen wir es gemeinhin „Doppelleben“.

Grenzüberschreitendes Zusammenwirken von Nationalstaaten „über Kreuz“ gegen eigene Bürger

Vertrauen ist essentiell für einen modernen Staat. So ein Rechtsstaat lebt von Vertrauen, das ihn konstituiert: nur durch seine massenhafte Anerkennung kann der Rechtsstaat ein Rechtsstaat bleiben und muss sich nicht auf eine Weise durchsetzen, die ihm die Legitimation nimmt und letztlich zu seiner Auflösung führt. Was aber, wenn Ausländer von seinem Handeln betroffen sind?

Lassen wir die internationale Rechtslage außen vor, wo nur die Lösung zu suchen sein kann, weil Staaten untereinander Regeln brauchen. Bleiben wir erst einmal bei der Bewertung stehen, weil es hierzulande wohl noch zu diskutieren ist. Wer andere Staaten heimlich mit Informationen versorgt, ohne dass es dessen Bürger wüssten, zerstört Vertrauen innerhalb dieser Staaten (in diesem Fall Deutschland). Aus der Perspektive eines Bürgers eines ausländischen Rechtsstaates (in diesem Falle Deutschland) ist die Quelle der Information unbedeutend im Vergleich zum Ziel: Der ganze Vorgang ist eine Grundrechtsverletzung durch den Staat, der die Information entgegennimmt, in mittelbarer Täterschaft, wobei der abhörende Staat Werkzeug des grundrechtsverletzenden Staates ist. Nach normalen Regeln des Strafprozesses müsste man wohl auch an ein Verwertungsverbot denken: Was illegal erlangt wurde, darf nicht verwertet werden. In jedem Fall liegt eine moralische Verantwortung für das vor, was Juristen kollusives Zusammenwirken nennen: Die geheime Verabredung mehrerer Beteiligter (in diesem Fall den Staaten USA und Deutschland), einem oder mehreren Dritten (nämlich Millionen von Bürgern) unerlaubt Schaden zuzufügen, wobei Kenntnis oder Unkenntnis einzelner Staatsorgane an der Zurechnung für den Staat nichts ändert. Es ändert auch nichts an dieser Betrachtung, dass es das innerhalb der jeweiligen Staaten immer schon gegeben hat, denkt man etwa an Millionen vom BND im Kalten Krieg geöffneten Briefe. Es mag alles rechtens sein, wie Verantwortliche sagen, denn es kommt trotz aller systematischen Bedenken (vor allem hinsichtlich der Verfahrensweise in den USA (Lesetipps Economist und FAZ) immer auch darauf an, welche Daten konkret wem zur Kenntnis gelangen (die allgemeine Information über eine neue Terrorzelle in Harburg etwa wäre noch keine Grundrechtsverletzung). Trotzdem ist das grenzüberschreitende Zusammenwirken von Nationalstaaten „über Kreuz“ gegen ihre Bürger schon so nah am Ufer des Rubikon, dass man sich wünscht, der aktuelle Bundespräsident oder wenigstens Kai Diekmann hätte dem amerikanischen Präsidenten auf den Anrufbeantworter gesprochen.

Falscher Friede

Durch anlasslose Kommunikationsüberwachung nimmt Vertrauen schweren Schaden. Vertrauen als Erwartung des Handelns anderer richtet sich nicht nur an den Staat und seine Organe, sondern natürlich auch von Bürger zu Bürger, deren Handeln sich durch Kommunikationsüberwachung ändern kann. Vertrauen ist nicht einfach „da“, sondern Vertrauen kann sich nur dort entwickeln, wo die Zukunft unsicher ist, wo Menschen handeln und wo sie auch die Wahl haben, sich für unethisches Handeln zu entscheiden. Die Zukunft ist aber nicht unsicher, wenn alle identifiziert und kontrolliert werden, denn dann werden sie sich äußerlich korrekt verhalten. Dieser äußerliche Frieden verdient die Bezeichnung „Frieden“ nicht – und eine Erwartung, die sich auf ständig korrektes Verhalten in der Vergangenheit stützt, darf nicht „Vertrauen“ genannt werden, wenn sich hinter der äußerlichen Nichtkriegsheit eine innere Feindlichkeit verbergen kann, die gerade dadurch zu einer ständigen Bedrohung wird, dass man sie nicht mehr äußerlich bemerken kann. Denn niemand konnte sich gegen das Gute (um in der Polarität zu bleiben: für das Böse) entscheiden, jeder musste gut handeln.

Oval Office von Oben (Wikipedia Commons)

Oval Office von Oben (Wikipedia Commons)

Ein trügerisches Bild: Wo Kameras sind, hat niemand die Wahl.

Das falsche Menschenbild

Es wird deutlich, wie sehr eine anlasslose Überwachung auf einen Zustand zielt, der im christlichen Weltbild als dem Fundament westlicher Grundwerte nicht vorgesehen ist. Das Menschenbild westlicher Grundwerte sieht den „#fail“ als eine Möglichkeit des Handelns vor, mehr noch: das Gute und das Böse, Gott und Teufel, bilden eine dialektische Einheit, und die christliche Geschichte ist voll von Versuchen, die These von der Existenz eines Gottes zu verteidigen, obwohl derselbe ja ganz offenkundig Leiden zulässt (Theodizee).

Sündenfall, Tizian

Sündenfall (Tizian)

Wer das Göttliche verloren hat, will nicht nur seine Scham verbergen, er muss sich fortan auch zwischen Gut und Böse entscheiden.

Ein Zustand, der uns faktisch die Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse nimmt (Insofern, als dass er unser Handeln sofort erfasst und bestraft), entspricht nicht unserem Menschenbild. In diesem Zustand sind alle entmenschlicht, sie verlieren ihre Subjekt-Eigenschaft und werden Objekt staatlichen Handelns. Die Überwachung, die alles panoptisch erfasst, will Vertrauen schaffen, aber sie schafft Misstrauen – noch über das Misstrauen hinaus, das sie selbst schon ausdrückt. Sie infiziert so alles soziale Handeln, das sie überwachend erfasst, wie ein Virus mit ihrem Misstrauen, das jede überwachte Handlung begleitet. Die Überwachung, die alles panoptisch erfasst, ist im engeren Sinne totalitär, weil sie in alle sozialen Verhältnisse eindringt – das ist ein Verrat an den Grundwerten des Westens für Menschen, die sich online ebenso wie offline bewegen, weil sie ihre sozialen Verhältnisse im Netz genauso wie in der körperlichen Welt pflegen und dort mitunter vertrauensvoller miteinander umgehen als in der körperlichen Welt. Das ist in etwa so, als hätten im Wohnzimmer unserer Großeltern immer drei graue Herren gesessen, wenn die Nachbarn zum Romméspiel kamen. Aus diesem Grunde ist der Aufschrei in der deutschen Netzgemeinde über Prism so laut – wohingegen ein solcher Eingriff in das Leben von Offline-Normalbürgern nicht zur Diskussion steht und Online-Normalbürger auf Facebook dieses Vertrauen in die Integrität von Facebook nie hatten, weil sie die Medien seit Jahren ständig warnen.
Das Verblüffende ist: das alles wäre nur halb so schlimm, wenn es nicht heimlich geschähe. Erst durch Heimlichkeit hat das Mitschneiden den Charakter von Heimtücke und Vertrauensbruch. Es ist daher tunlichst zu raten, dass die Öffentlichkeit aufgeklärt wird.

Vertrauen, überall und im Prozess

Vertrauen ist der Rohstoff, aus dem soziale Beziehungen in neue Qualitäten wachsen können. Was eine friedliche Gesellschaft auszeichnet, ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern dass der der eine mit dem anderen in Interaktion treten kann, weil er Erwartungen haben darf, dass es für ihn gut gehen werde. Dass wir positive Erwartungen hegen dürfen, gilt nicht für nur das Respektieren unserer eigenen Rechte, nicht nur für archaische Handlungen von Mord und anderer Gewalt, sondern Vertrauen ist auch der Rohstoff für Tauschbeziehungen in der Wirtschaft – es ist im Grunde fürs jedes gesellschaftliche Teilsystem so wichtig, dass man es als strukturgebend bezeichnen kann, weil sich Menschen in ihren Rollen so verhalten, wie es andere erwarten. Das ist uns heute so selbstverständlich geworden, dass es hier herauszuarbeiten ist: Es ist nicht selbstverständlich, dass uns unser eigener Anwalt der Gerechtigkeit wegen nicht anzeigt, dass uns der Beichtvater der göttlichen Gesetze wegen nicht ins Jenseits befördert und uns der Arzt nicht tötet, wenn wir mit unserem Virus die Gesundheit anderer gefährden! Wo also dieses Gut „Vertrauen“ gefährdet ist, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen, die Gesellschaft fällt um Jahrtausende zurück in einen Zustand der Dunkelheit. Eine Gesellschaft, die längere Zeit anlasslos die Kommunikation überwacht, verlernt es zu vertrauen; Vertrauen entsteht im Prozess aus Freiraum und es geht wieder, wo Handeln keinen Freiraum hat. Dasselbe gilt für Verantwortung als dem Einstehen für die eigene Entscheidung. Jeder Mensch muss beides als Kind lernen. Eine solche Gesellschaft, die längere Zeit anlasslos die Kommunikation überwacht, muss sich umso mehr vor jenem dunklen Tag fürchten, an dem die Überwachungs-Automaten ausfallen. Hochmoralische Beichtväter im Jahre 2100 könnten Gläubige töten, die sich als Schwerverbrecher offenbart haben, wenn alle die Konzepte von Vertrauen und Verantwortung vergessen haben.

Der Mensch als Störfaktor in der Sicherheitsgesellschaft

Komplexe Gesellschaften stellen Vertrauen zudem über Institutionen, Normen, Prozesse, Marken und ähnliches her. Ständig anlasslos überwachte Prozeduren kann man als besonders gesichert in dem Sinne ansehen, dass sie erwartungskonforme Ergebnisse liefern. Dabei schalten sie jedoch den Menschen als Störfaktor aus und nehmen ihm Beweglichkeit, Luft und Lebendigkeit, so dass sie ihm auch auf diese Weise Menschlichkeit nehmen. Das gilt nicht nur für die Rollen von Menschen in wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozessen, diese Grunderwartung ist auch zunehmend in einer Politik zu finden, die alles durchnormiert und Risiken ausschalten will. Kein Bereich ist davon ausgenommen, auch Blogger fordern lieber, als dass sie verzeihen. Die „Komfortgesellschaft“ hat insofern über die „Sicherheitsgesellschaft“ eine eigenartige geistige Nähe zur Überwachungsgesellschaft und man muss sehr aufpassen, dass sie sich nicht zur Superkomfortgesellschaft für Mehrheiten gegen Minderheiten entwickelt, die die Erwartungen nicht erfüllen.

Digitale Schattenarbeit ist notwendig

Wer sich nun empören möchte, muss noch digitale Schattenarbeit leisten: Wo beobachten wir einander, ohne dass wir fremde Dritte zu Tätern erklären können und uns zum Opfer machen? Inmitten unserer Gesellschaft nehmen wir es als Normalität hin, wenn Kinder rund um die Uhr von Eltern beobachtet werden. Wir nehmen nicht wahr, dass alte Menschen in Pflegeheimen rund um die Uhr von Dritten beobachtet werden und nicht einmal in ihrer Nachttischschublade noch sicher davor sein können, dass man ihre Grenzen respektiert. Medienprodukte entstehen mit gezielten Brüchen von Privatsphäre. Es gibt Eheleute, die wie selbstverständlich ihre Handies gegenseitig in Augenschein nehmen – sogar einvernehmlich als „Vertrauensmaßnahme“. Auch die Kontrollierbarkeit am Arbeitsplatz hat mit der Digitalisierung zugenommen. Vielleicht wird dies alles auch durch Verdichtung beschleunigt: mit Urbanisierung und Anschluss an viele Funktionssysteme muss sich die Kontrolldichte beinahe erhöhen. Umgekehrt: Wie soll es ohne Beobachtung gehen, wenn sich eine Million Menschen sich auf wenigen Quadratkilometern Ressourcen teilen? Jedenfalls sind wir selbst es, die jede Neuerung der Medientechnik dazu genutzt haben, Dokumentierbarkeit eines jeden Vorganges zu fordern; selbst im Wirtschaftsalltag zählt das Wort weniger als eine Mail oder eine Präsentation mit Protokoll. Das Protokoll hält etwas fest, weil wir Angst haben, dass es unsicher werden könnte.

Schluss

Dieser Frieden, der mit anlassloser Überwachung hergestellt wird, ist kein Frieden und er darf nicht Frieden genannt werden. Er ist aus dem Krieg geboren und seine Handlungen richteten sich erst gegen wenige, die den Krieg begonnen haben, und nun säen sie Misstrauen, das Gift für jede soziale Beziehung ist, die Vertrauen erfordert.

Es ist nicht leicht, die Grenze zwischen einerseits Beobachtung beziehungsweise Beobachtetwerden als existentiellem Grundzustand und andererseits Überwachung als Grenzüberschreitung zu ziehen. Aber aus genau diesem Grund darf die Beobachtung nicht zur Regel werden, sondern muss begründete Ausnahme bleiben. Eine dauerhafte Beobachtung in weitreichendem Umfang ist jedenfalls eine dauerhafte Grenzüberschreitung, welche die Gesellschaft in ihrem Grundfundament beschädigt und auch nicht in das westliche Wertesystem passt.

1 = Diesen Satz habe ich für mich geschrieben, weil ich beides bin, und ich beobachte nun, wie er in mir nachklingt

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28 Komentare zu
“Vertrauen, Verrat und Schatten – A Letter From Hamburg”

  1. Fritz sagt:

    Wichtigtuerischer Quatsch mit Soße.

    1. Christoph Kappes sagt:

      Quatsch vielleicht, aber warum denn Sosse?

  2. Großartig. In amerikanischen Justiz-Filmen könnte ich mir das als viertelstündiges Schluss-Plädoyer vorstellen.

    Und nebenbei ist es das Beste, was ich bisher zum Thema Verschlüsselung der eigenen Lebensäußerungen gelesen habe.

    1. Christoph Kappes sagt:

      Ich fürchte, es sind zwanzig Minuten 😉

  3. Jawohl: großartig. Vieles vom eigenen Unbehagen finde ich hier in Worte gefasst.

  4. Sehr gut. Nur diese Idee von den „christlichen Gundlagen“ der westlichen Werte kann ich nicht teilen. Werden wir dem Frieden, der mit anlassloser Überwachung hergestellt wird, noch entkommen? Ich habe meine Zweifel.

    1. Christoph Kappes sagt:

      Woher kommen denn Deines Erachtens die konkreten Ausprägungen der Grundwerte? Ich sehe da ausser dem Christentum natürlich auch die Aufklärung, aber was sonst?

      Es gibt keine Zukunft ohne Zweifel, weil Zukunft unsicher ist.

      Ich vermute aber, dass es sich schon in die richtige Richtung entwickeln wird. Zb Ad-Hoc-Netzwerke, die zwischen konkreten Personen entstehen. Es wird eben nicht nur dieses eine monokulturelle Internet geben. Vielleicht gibt es ein Perlentaucher-Protokoll? Ich baue Dir eine Software, die IO gegen PP ersetzt.

  5. john sagt:

    Verschlüsselung ist perspektivisch das einzige was hilft. irgendwer überwacht immer. Verschlüsselung ist kein Ersatz für politische Initiativen, aber an sich sollte net schon längst verschlüsseln, sich ohne konkreten Anlass, den alles andere ist im jetzt nicht privat. ob jetzt der eine oder andere Geheimdienst oder nur ein nicht vertrauenswürdiger Netzwerk Administrator oder ein Lauscher im WLAN ist doch egal, Verschlüsselung hilft gegen sie alle und als was in Zukunft noch kommt.

  6. Ein guter Aufsatz, umfassend mit einer Menge wichtiger Aspekte – vom christlichen Menschenbild über die wechselseitige Kontrolle der Gewalten im demokratischen System über Vertrauen als Rohstoff sozialer Beziehungen bis zum Schlusspunkt des Beobachtetwerdens als existentiellem Grundzustand. Alles sehr gut. Aus meiner Sicht ist aber nicht das dauerhafte Beobachtetwerden der entscheidende Punkt, sondern die Aufgabe der Unschuldsvermutung, die Umkehrung der Beweislast: Zeigen Verhaltensmuster meine „Schuld“, muss ich meine Unschuld beweisen.

    Zwar gehen Sie in dem Abschnitt „Die Heimtücke der digitalen Angriffe“ auf die Frage ein, in wie weit Aufzeichnungen der Maschinen als Abhören zu qualifizieren ist, aber die Argumentation ist vielleicht zu juristisch: Entscheidend sei, dass auch hierbei Menschen als Urheber Teil einer Handlung sind. Gewiss. Aber es fehlt bei dem massenhaften „Abschöpfen“ der Daten und der algorithmischen Auswertung zunächst völlig der personale Aspekt: Da sitzt keine(r) und lauscht, hört, liest, wie noch bei der Stasi. Digitale Überwachung funktioniert doch gerade nicht nach dem Urbild „Big brother is watching you.“ Die „Maschinen“ decken programmierte Muster auf, nach denen gesucht wird. Erst die digitale Verknüpfung aller möglichen Spuren zu einem konstruierten Bild ergibt das möglicherweise verdächtige Profil. Erst dann treten Menschen in Aktion und es wird gehandelt, befragt, verhaftet. Das beobachtende personale Gegenüber, das mich verunsichert (der Glotzer auf der öffentlichen Toilette) entschwindet hier: An die Ü-Kameras auf Straßen und Plätzen gewöhnt man sich ganz anders / leichter als an „graue Männer“ auf Balkonen. Von der Beobachtung meiner digitalen Spuren im Internet merke ich zunächst überhaupt nichts, allenfalls dann, wenn eine besser passende Werbung eingeblendet wird.

    Es geht also um ein „Menschenbild“ der Anonymisierung (die erst auf Grund entdeckter Muster personalisiert wird) und Instrumentalisierung, die Menschen auf ihre konstruierten Verhaltensmuster reduziert. Das mag oft verblüffend genaue Voraussagen ermöglichen, aber es bleiben irrtumsbehaftete mathematische Konstruktionen. Für die überwachenden Behörden bin ich nur noch entpersonalisiert die Summe meiner digitalen Daten und Profile. Meine Unschuld verschwindet in der Beweislast der Algorithmen. Was kann ich dagegen noch vorbringen?

    1. Christoph Kappes sagt:

      Für mich bilden Mensch und Maschine eine Einheit. Wenn ich nach Handlung, Aktion und Verantwortung suche, sehe ich nur Menschen, nie Maschinen. Genauer: Menschen die ihren Handlungsraum mit Maschinen erweitern. Daher sehe ich einen „personalen Aspekt“, weil ich einen Wertungszusammenhang bilde. Wir bilden immer Wertungszusammenhänge, auch wenn B tot umfällt und A vorher geschossen hat.

  7. Fritz sagt:

    Der Beitrag gefällt mir vor allem in dem Punkt, wo deutlich wird, dass die demokratische Verfassung als solche von einer umfasssenden, geheimen und nahezu beliebig nutzbaren Überwachung aller Bürger grundsätzlich untergraben wird. Die Grenzen zwischen demokratischem Staat und Überwachungsstaat weichen weiter auf, am Ende bis zu dem Punkt, wo sich die anderen Instanzen, die konstitutiv sind für die Demokratie, durch die Überwachungsinstanzen kontrolliert und dadurch auch beeinflusst werden können. Ich vermute sogar, dass aufgrund der technischen Entwicklung es nunmehr nötig wäre, die Verfassung um neue Paragraphen zu erweitern und den Überwachungsstaat verfassungsmäßig auszuschließen, also die Standards an höchster Stelle im Recht abzusichern.
    Der Zusammenhang zwischen Freier Rede, Verschlüsselung und Sicherheitskontrollen war bislang nicht sonderlich problematisch. Es ist völlig natürlich, dass man persönliche Briefe zuklebt, eventuell Einschreiben nutzt etc. oder andersherum offene Postkarten verschickt. Jeder Bürger lebt also seit jeher mit selbstgesteuerten „Geheimhaltungsverfahren“ und es galt immer als Grundlage der Demokratie, dass der Bürger dieses „Recht auf Verschlüsselung“ hat. Neu ist, dass er plötzlich seine Geheimhaltungsverfahren eine Stufe nach oben skalieren müsste und sich selbst wie ein Geheimdienstler verhalten müsste, weil der Staat sich nicht mehr an die früheren Abmachungen hält (Briefgeheimnis etc.). Das ist zunächst lästig und befremdlich, würde aber tendenziell das frühere Vertrauensniveau wiederherstellen (nicht ganz, das Vertrauen in den Staat ist momentan bereits zerbrochen und dementsprechend schwer wieder restaurierbar – „das machen die Mächtigen selbst, dass die Leute sich gegen sie erheben“).
    Umfassende Kontrollen erfreuen sich im übrigen durchaus auch hoher Akzeptanz in der Bevölkerung, wenn sie offen stattfinden und deutlich zweckgebunden sind. Ein Beispiel sind die Flughafenkontrollen, wo ausnahmslos jeder auf Waffen durchleuchtet und abgeklopft wird. Auch dort ist jeder unter Verdacht, auch die augenscheinlichst Unverdächtigsten, aber jeder akzeptiert diese KOntrollen, weil er weiß, dass es auch seinem persönlichen Sicherheitsgefühl dient. So wird auch immer von den Staatsnaiven argumentiert: Wir können uns doch alle sicherer fühlen, wenn wir uns alle kontrollieren lassen. Das ist sogar theoretisch so, weswegen das Argument bei vielen verfängt. Das Problem ist, dass ja mitnichten alle kontrolliert werden – unkontrolliert bleiben die Zweckgebundenheit der Verwendung der Daten und die Kontrolleure selbst. Am Flughafenbeispiel: Das ist so, als würden die Daten, die beim Durchleuchten der Koffer entstehen, noch mal an eine Geheimbehörde weitergegeben werden und wir wüssten nicht, was die mit dem Wissen über unseren Kofferinhalt so alles anstellt. In dem Moment würde die Zustimmung zur Security-Arbeit des Staates schwinden – und eben dies ist die Situation bei den Netzdaten. Damit der Staat für die vom Bürger ja durchaus gewünschte Security sorgen kann, liegt es also in meinem Interesse als Bürger, dass er das offen, strikt zweckgebunden und kontrolliert durch externe Instanzen tut. Die primär um ihre Sicherheit Besorgten merken ja schon, dass jetzt gerade beides flöten geht: Sowohl die Sicherheit vor terroristischen Attacken als auch das Vertrauen der Bürger in ihren Staat. Eine selektive und zweckgebundene Security-Arbeit des Staates wäre jedenfalls schwerer für Kriminelle, Wirtschaftsbetrüger und Attentäter auszurechnen als die relativ plumpe, gottgleiche Datenfahndung. Die Frage ist nur, ob es den amerikanischen Überwachungsbehörden wirklich um Security geht oder nicht viel mehr um die Installierung eines antidemokratischen Machtinstruments, das bei Bedarf jeden Missliebigen aus der Menge herauspicken und „unschädlich“ machen kann.
    Wie auch immer, jemand wie Minister Friedrich müsste eigentlich wegen erwiesener geistiger Insuffizienz aus dem Amt gejagt werden, die Bedrohung des Staates durch die Überwachung aller Bürger zu kapieren.

    1. Michael sagt:

      Es ist ja eine schöne und heilige Aufregung, die jetzt breit und wahlkampfwirksam durch alle Medien gejagt wird – inklusive der ach so praktischen Angriffe auf diverse Politiker.
      Fakt ist doch, dass ALLE unsere Regierungen seit Jahrzehnten von der Überwachung wussten und sie auch gefördert haben. Egal ob Rot, Grün, Gelb oder Schwarz..

      Der Ruf nach Freiheit und Privatsphäre ist edel – und das war es schon. „Bespitzelung“ passiert immer und überall unter Menschen – hat es schon immer und wird es immer. Nur die Methoden werden eben immer ausgefeilter.

      Gefällt mir das? Nein, aber das wird die Situation nicht ändern, weil es eben ein menschliches Bedürfnis isst, Dinge und wissen und sich in dem Bewusstsein „Ich habe den Überblick“ geborgen zu fühlen.
      Aber den Überblick hatten wir nie und werden ihn nie haben, was ist also in Wirklichkeit passiert? Uns wurden einige unserer Illusionen gestohlen, mehr nicht.
      Der eine oder andere wird sich über sein Verhalten im Web Gedanken machen, Oppositions-Politiker werden es so lange es geht im Wahlkampf ausschlachten und – sollten sie damit Erfolg haben und im herbst an die Regierung kommen – orginal GAR NICHTS dagegen tun. Weil sie es nicht können und in Wirklichkeit auch nicht wollen.
      Akzeptieren wir einfach: Jemand beobachtet uns immer. Unschön, aber wahr.
      Bleibt nur eines… sich so zu Verhalten, dass man sich selber nichts vorwerfen muss und sich selber im Spiegel ansehen kann. Alles andere ist ausserhalb unseres Einflusses.

      1. Christoph Kappes sagt:

        Ich freue mich, dass Sie meinen Standpunkt als schön, edel und heilig bezeichnen. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber trotzdem freue ich mich.

  8. Anselm Bühling sagt:

    Danke für diesen großartigen, profunden Text, der lange nachwirken wird und eine Art Lackmustest sein könnte: Vertreter der Staatsgewalt, die sich noch in irgendeinem Sinn als Repräsentanten und nicht nur als Verwalter und Führungskräfte der Gesellschaft verstehen, müssten ihn sich eigentlich etwas angehen lassen.

    Nicht einverstanden bin ich mit dem Satz „…alles wäre nur halb so schlimm, wenn es nicht heimlich geschähe“. Richtig ist: In der Heimlichkeit liegt Heimtücke und Vertrauensbruch. Aber in dieser Passage klingt es ein bisschen so, als ließe sich das weitgehend einfach dadurch aus der Welt schaffen, dass an der Praxis zwar nichts verändert, die Öffentlichkeit aber informiert wird. Dass das nicht so ist und die anlasslose Totalüberwachung gerade auch Vertrauen zerstört, wenn und indem sie den Überwachten bewusst ist, macht der Text an anderer Stelle ja deutlich genug.

    Die tiefentheologische Dimension ist erhellend und es könnte anregend sein, sie noch weiter zu verfolgen. (Wer definiert „gut“ und „böse“? Wie ist die auffällige Ähnlichkeit zwischen dem projektierten Apparat und dem lieben Gott für die kleinen Kinder, der „alles sieht und weiß“ einzuordnen?)

    1. Christoph Kappes sagt:

      Ja, für diesen Satz haben mich mehrere Leute kritisiert, weil sie eine Zustimmung sahen. Da steht aber keine Zustimmung. Die Aussage hätte ich auch auf Mord und Totschlag beziehen können: Der Mord wäre nur halb so schlimm, wenn er nicht heimtückisch geschehen wäre. Mord lebenslang, Totschlag 5-15 Jahre.

  9. Gernot sagt:

    Ich komme auch aus der Juristen/Informatiker-Ecke mit ein wenig Historiker obendrauf – und ich habe viele Überlegungen in deinem zufällig gefundenen Text wiederentdeckt.

    Einige (unzusammenhängende) Anmerkungen:

    1.

    Wovon wir hier sprechen ist eigentlich eine schleichende Gesamtänderung der Verfassung, wie sie beispielsweise im österreichischen Verfassungsrecht verankert ist. Wenn sich demokratische Grundkonstanten durch Normen bzw. Normen im Verfassungsrang / internationale Verträge schleichend verändern, sollte der Verfassungsgerichtshof eigentlich die Verfassung und alle Gesetze anhand der Baugesetze überprüfen, um den demokratischen Normzustand so wiederherstellen zu können. Geschehen ist in Österreich bisher allerdings nichts.

    2.

    Der digitale Raum ist ein „neuer“ Raum. Auf der einen Seite haben wir die nationalen staatlichen Besitzansprüche, die aber in dieser klassischen Form jeglicher Grundlage entbehren (weder einheitliches Staatsvolk, noch irgendeine Form der sinnvollen Staatsgewalt und von nationalen Grenzen brauchen wir hier ja nicht einmal reden). Trotzdem wird es als Fiktion behauptet, damit man insbesondere steuerlichen Zugriff bekommt – d.h. staatliche Macht ausüben will.

    Auf der anderen Seite will man aber die national geltenden Rechte nicht im digitalen Raum gelten lassen. Das Briefgeheimnis, der „private“ Bürgerraum, der von staatlichen Organen nur im Ausnahmefall und unter richterlicher Überprüfung im Einzelfall betreten werden darf – all das wird bewußt unter Verweis auf die neuen Eigenschaften des digitalen Raumes nicht übernommen.

    Hier liegt das eigentliche Problem für die demokratischen Systeme der Checks and Balances – denn es ist bis jetzt noch nicht geklärt, was Cyberspace denn eigentlich ist. Und so wird fröhlich herumgetrickst, um der Frage „Was ist Cyberspace“ auszuweichen. Im Rahmen von billigen Analogien wird stattdessen im Einzelfall gefragt, welche Ähnlichkeiten Cyberspace denn zu bestehenden und geregelten Räumen hat. Und dann pickt man sich die bestmöglichen Konstellationen heraus. Dies führt in einer globalen Betrachtung zu sich widersprechenden, ja sogar einander ausschließenden Normen, die aber für den jeweiligen Einzelfall munter angewandt werden. Das alte K.K. Post- und Telegraphengesetz hatte bessere Schutzbestimmungen als unsere neuen TK-Gesetze und war von seinen Definitionen so weit gefasst, dass man problemlos moderne TK-Systeme darunter subsumieren hätte können.

    3.

    Mein persönlicher und ein wenig aufbauender (Forschungs-)Ansatz hier – sowohl als Jurist als auch als Historiker – ist, Cyberspace als potentiellen vierten völkerrechtlichen „international space“ zu betrachten, der langsam im Entstehen ist. Einzelpersonen nehmen ihre nationalen Regeln mit und können sich die für sie geltenden nationalen Regeln – ähnlich einer „flag of convenience“ in letzter Konsequenz dann selber wählen.

    Dass internationale Räume nie sinnvoll national geregelt und beherrscht werden können, beweist die Entwicklung der Hohen See eindrucksvoll. Gleichzeitig zeigt die Entwicklung auch, dass es fast jeder mächtige Nationalstaat zumindest einmal probieren musst, um diese offensichtliche Einsicht auch zu verinnerlichen. In dieser Phanse befinden wir uns im Moment in Bezug auf den digitalen Raum, unsere digitalen Informationen (die Teil unserer digitalen Person sind), unsere digitale Wohnung, die Umsetzung verfassungsrechtlich garantierter digitaler „Verschwiegenheitsgarantien“ usw. Daher wird es wahrscheinlich kurzfristig noch etwas schlimmer bevor es (hoffentlich) wieder besser wird.

    Wenn nun aber die Einzelperson einen internationalen Raum betritt, dann tut sie dies mit möglichst guter Ausrüstung – da eine Reihe von Schutzfunktionen gemeinsam mit der in diesem Raum bestehenden „Freiheit“ wegfallen müssen. Daher finde ich es sehr wohl sinnvoll, möglichst breite Bevölkerungsschichten an Verschlüsselung etc heranzuführen, da dies die Situation für staatliche Stellen schneller eskaliert. Leider scheint es, dass Staaten diese Eskalation brauchen (siehe fehlende Kontrollinstrumente im Euro, die erst mit einer Krise nachträglich eingeführt werden, weil man sich bei Einführung nicht einigen wollte) und hoffentlich dann zu einer ausgewogenen Behandlung des digitalen Raumes führen werden.

    4.

    Ich würde das gerne weiter mit Dir diskutieren – schreib mir vielleicht mal eine Mail – vielleicht kann man einen Podcast oder Artikel daraus machen…

    Besten Gruß aus Wien,

    g

    1. „Hier liegt das eigentliche Problem für die demokratischen Systeme der Checks and Balances – denn es ist bis jetzt noch nicht geklärt, was Cyberspace denn eigentlich ist. Und so wird fröhlich herumgetrickst, um der Frage “Was ist Cyberspace” auszuweichen. Im Rahmen von billigen Analogien wird stattdessen im Einzelfall gefragt, welche Ähnlichkeiten Cyberspace denn zu bestehenden und geregelten Räumen hat.“

      Guter Beitrag, Gernot. Aber hier bin ich nicht ganz deiner Meinung: Ja, wir müssen verstehen, was dieser Raum ist (raum ist übirgens besser als „Medium“ oder Kommunikationsforum“. Ich gehe da mit Miriam Meckel, das ganze einen Gesellschaftsraum nennt, den wir noch austarieren müssen. Aber wir haben durchaus Erfahrungswerte bei der erfolgreichen Regulierung von gesellschaftlichen Räumen, die wir beim Problem hier zur Anwendung bringen können. Zum Beispiel im Strassenverkehr. Auch der Straßenverkehr ist ein durch Technik induzierter gesellschaflticher Raum, der lange fehlreguliert wurde, bis sich dann der Gesetzgeber endlich auf eine Reglierungskompetenz (auch zusammen mit anderen Staaten) hinbewegen konnte. Hier gilt es genau hinzuschauen, was zum Beispiel zwischen 1960 und 1975 im Straßenverkehr passiert ist. denn damit käme man in der Tat weiter.

      Was mich wiederum interessieren würde, ist Deine Referenz zur „hohen See“, als Beispiel einer gescheiterten NAtionalstaatlichen Regulierung. Hast du da mal ein paar Beispiele?

      Nur scheint niemand sich wirklich die Mühe

      1. Christoph Kappes sagt:

        Der Strassenverkehr ist, wie jeder andere Bereich auch, ein soziotechnisches System, das aus 1. Technik 2. Normen 3. Ressourcen besteht. Gilt also auch für Atomkraft, Getränkeflaschen, Bratwurstherstellung.
        Im Falle des Strassenverkehrs sind sich alle Experten einig, dass es nicht Normen (aka „Regulierung“) war, mit der man die Sicherheitsprobleme in den Griff bekam, sondern Technik. Mit SIcherheitsgurt, ABS und passiver Sicherheit ist die Todesrate je gefahrenen Kilometer auf 1/12 gesunken – nicht aufgrund Regulierung!

  10. Den Fokus auf Vertrauen zu richten finde ich gut. Zum Thema Verschlüsselung fehlt mir allerdings der Punkt, dass auch staatliches Handeln durch Rahmenbedingungen beeinflusst wird:

    > Man kann sein ganzes Leben so einrichten, dass es Unberechtigten per default verborgen bleibt, dann aber nennen wir es gemeinhin „Doppelleben“.

    Bis vor 30 Jahren war jedes Leben automatisch vor 99,9% der Leute verborgen, einfach durch real existierende Abstände (physische Welt).

    Das hat sich geändert, und dadurch änderten sich auch die Rahmenbedingungen staatlichen Handelns.

    Die *Pflicht* zur allgemeinen Verschlüsselung (von privatem) finde ich dabei blöd. Den Aufruf „wenn es nicht verschlüsselt ist, hat es effektiv schon jemand“ allerdings realistisch. Wir schreiben ja auch keine intimen Liebesbriefe auf Postkarten.

    Wir sollten alle unsere Kommunikation verschlüsseln. Ich hoffe, STEED macht das bald einfach.

    (Minister Friedrich will vermutlich nur die DE-Mail pushen: Die kann nur vom Staat abgehört werden – und von jedem, der an den Server kommt…)

    Verschlüsselung geht nicht gegen den Staat. Vielmehr verändert sie die Rahmenbedingungen (Abhören wird teurer) und verschiebt damit ein Gleichgewicht, in dem staatliche Entscheidungen getroffen werden.

    Als Beispiel nehme ich das Freenet Projekt (freenetproject.org): Unser Ziel mit Freenet ist es nicht, Zensur zu verhindern. Das können wir nicht, denn ein Staat könnte jederzeit das Internet abschalten.

    Unser Ziel ist es, die Kosten für Zensur so hoch zu treiben, dass sie nicht einfach durch die Hintertür kommen kann: Sobald effektiv zensiert werden soll, werden das alle Internetnutzer merken, weil selbst so grundlegende Dienste wie Onlinebanking nicht mehr funktionieren.

    Das gleiche gilt bei Überwachung: Wenn unsere Kommunikation verschlüsselt ist, kann Überwachung nicht so einfach im Hintergrund passieren („die Daten sind ja schon da, es wäre verbrecherisch, sie nicht zu nutzen“), sondern erfordert sichtbaren Aufwand.

    Dadurch ändern sich die Rahmenbedingungen für staatliches Handeln.

  11. V. sagt:

    Auch ein schönes Essay gegen Post-Privacy und ihre smarte Technologie (Google Glass): „Ein trügerisches Bild: Wo Kameras sind, hat niemand die Wahl.“

    Die „Krypto-Fraktion“ ist allerdings sehr wohl politisch, vermutlich sogar politischer als dem Staat und dir lieb ist. Unterwerfungshandlungen begehen eher diejenigen, die einem elitären Selbstdarstellungswahn in ihren Blogs, bei Google+ oder Twitter erlegen sind.

    Nebenbei gefragt, was ist denn nun philospohisch/politisch gegen „Do-It-Yourself“ einzuwenden? Kapitalistische Verwertung oder alltägliche „Sachzwänge“ der digital Getriebenen?

  12. praxsozi sagt:

    Hallo Herr Kappes, ein großes Faß haben sie da mal wieder aufgemacht.

    Meine These : Vertrauen entsteht vielleicht nur dort wo wir wissen, dass wir und und unsere Handlung beobachtet wird. Es muss ja nicht immer gleich die Polizei sein, gelle?
    Doch die Bedingugen für das Vertrauen brauchen die Interaktion und den Willen und die Wahrnehmung dazu.
    Mein Beritt ist ja das Verhalten im Straßenverkehr, den ich hier als Beispiel anführen kann:

    Der Soziologe Erving Goffman hat die Bedingungen für Vertrauen aus den Merkmalen des Straßenverkehrs präzise heraus gearbeitet und deren Wirkung durch Beobachtungen und eine Empirie der Verhaltensweisen unterlegt:

    “ Der Straßenverkehr zeigt interessante Merkmale: eine relative Gleichförmigkeit der Regeln, unabhängig von regionalen und nationalen Grenzen, und zwar trotz beschränkter polizeilicher Aufsicht; relative Seltenheit von rechtlichen Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Klasse, Alter, Rasse oder Reichtum; relative Explizitheit und Vollständigkeit der Regeln bei gleichzeitiger strenger, formaler sozialer Kontrolle; eine weit verbreitete Auffassung, daß man eine Regel ruhig übertreten kann, wenn man sich dabei nur nicht erwischen läßt. Straßenverkehrsregeln stellen dadurch gerade einen Idealfall dar, an Hand dessen Wesen und Wert von Grundregeln erörtert werden können. Der Verkehr auf der Fahrbahn berührt sich mit dem Bürgersteig- oder Fußgängerverkehr, insbesondere an Straßenübergängen und und Ein- oder Auffahrten. Die beiden Systeme weisen in bestimmten Punkten Ähnlichkeiten auf. In beiden wird das Passieren unbekannter Piloten- oder zumindest solcher die man nicht zu kennen braucht, – geregelt, so daß sich hier eine Materialquelle für die Untersuchung sozialer Beziehungen zwischen Fremden ergibt. In beiden Fällen muß der Teilnehmer sein Schicksal vertrauensvoll in die Hände anderer Personen legen. (…)
    Im Hinblick auf den Fußgängerverkehr, ( und genauso dem Autoverkehr) kann das Vertrauen als problematisch und die Koordination als weder auf Diskussion noch auf stillschweigender Kommunikation beruhend angesehen werden. Wenn sich die beiden Parteien einander nähern, gibt jeder dem anderen fortlaufend Hinweise, daß er an einem angemessenen und von ihm angedeuteten Kurs festhält. Da der Vorteil, der durch das Hervorrufen von Verwirrung und durch offene Betrügerei erzielt wird, hier gewöhnlich nicht groß ist, läßt sich das Vertrauen leicht aufrechterhalten- und wird es auch aufrechterhalten. Natürlich können aber die Bedingugen die es einem erlauben, stets von neuem Vertrauen herzustellen, auch jederzeit plötzlich Grund zum Zweifeln geben.“

    http://people.brandeis.edu/~teuber/goffmanbio.html

    Die Straßenverkehrsregeln alleine helfen uns aber nur ein Stück weit, Zusammenstöße zu vermeiden. Neben den Techniken, die wir anwenden, um diese Ordnung zu schaffen, damit es keine Zusammenstöße gibt, ist aber vor allem das Vertrauen darauf, dass sich auch andere an die Regeln halten, dass eine soziale Ordnung unfallfrei funktionieren lässt. Wir wissen, dass wir beobachtet werden und dass wir andere beobachten.
    Ein Vertrauen, dass wir im Straßenverkehr wie selbstverständlich vorraussetzen, dass aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft wirkt.

    Es ist eine der Stärken der Soziologie, sowohl die wesentlichen Techniken beschreiben zu können, als auch die realen Wirkungen von Verhaltensweisen zu kennen, die es ermöglichen Vertrauen zu gewinnen. Davon würde ich das bei Ihnen anklingende Gottvertrauen der Religionen unterscheiden müssen.

    1. @Praxsozi: Strassenverkehr ist eine gute Referenz für funktionierende Regulierung. Wir müssen aber erkennen, dass wir im Straßenverkehr mindestens drei, eher vier Regulierungsebenen haben, die ineinandergreifen. Nicht nur eine soziale, in der die Beziehungen untereinander verhandelt und austariert werden, in denen Gesellschaften auch soetwas wie Verkehrssicherheitsverständnis austarieren und implementieren, sondern auch eine technische und eine Infrastrukturelle Ebene.

      Im Straßenverkehr hat man es geschafft diese Ebenen auszutarieren, und die verschiedenen Regulierungsaspekte miteinander zu verschränken, erst daraus ergab sich eine funktionierende Gesamtregulation.

      Man hat es aber auch geschafft andere Sachen auszutarieren, zum Beispiel das Verhältnis zwischen Anonymität und Verantwortung. Das haben wir im Netz noch nicht austariert, und die Tatsache, dass wir es nicht austariert haben leistet Überregulierungen wie Prism Vorschub vor allem bei einer in der Tat gefährdeten Sicherheitslage.

      Das Gegenteil einer unangemessenen Regulierung ist nicht *keine Regulierung*, es ist eine *angemessene Regulierung*. Hier sollte man genau hinschauen, wie im Straßenverkehr Anonymität und Verantwortung austariert werden, und dann mal die entsprechenden Verhältnisse imNnetz vergleichen.

      Wir reden immer im Freudentaumel von den wahnsinigen Möglichkeiten, die uns der gesellschaftliche Raum bietet, aber die Verantwortung dafür will derzeit niemand wirklich tragen. Wir leben in einem verantwortungsdiffundierenden Raum, der trotzdem Öffentlichkeit konstituiert. Und deswegen sehen wir Überregulierung.

      Ich finde gerade hier fehlt etwas in Christoph Kappes‘ Text: die Beleuchtung von Freiheit und Verantwortung fällt bei ihm etwas einseitig aus. Freiheit ist nicht nur dieses Ding welches bei überbordeneden Überwachung verlorengeht, es ist dann die frage zu beantworten, wie man damit umgeht, wenn die Freiheit im handek von Person A die Freiheit von Person B einschrränkt. wenn wir wirklich den Raum angemessen regulieren wollen, dann müssen wir auch erklären, wie wir Konflikte lösen können. Ansonsten haben wir keine Freiheit, sondern Anarchie. Politik (und Netzgemeinde) haben sich lange genug vor diesem Problem weggeduckt.

      Auch stimme ich nicht zu, dass sich die Netzgemeinde hier durch besondere Problemsensibilität hervorgetan hätte. im Gegenteil: Prism zeigt, dass der Gesellschaftsentwurf eines neoliberalen Netzes ohne angemessene gesetzgeberische (ja, auch überstaatliche) Regulation gescheitert ist. Der Verweis auf individuelle Verschlüsselung kann nur ein kurzfristiges Abwehrrecht sein. Wenn wir nicht die Flinte ins Korn schmeißen wollen (Häussler „Das Internet ist kaputt“) dann brauchen wir jetzt vor allem eine erwachsene Diskussion über die wichtige Frage, wie wir Anonymität und Verantwortung denn austarieren wollen. Quasi einen Gegenentwurf zu Prism, der auch das Sicherheitsbestreben der Amerikaner und Engländer mitnimmt, ohne gleich Orwell wieder in die Bestsellerlisten zu heben.

      Und: Wir müssen uns nochmal neu die Frage stellen, welche Rolle Technik und Infrastruktur hier zu spielen haben. Denn die Tatsache, dass die NSA bei Honeypots in der gigantischen Größe wie sie Google, M$ oder Facebook gesammelt haben, zugreift, ist eigentlich auch logisch.

      Hier hat sich nicht nur die Netzgemeinde durch zu langes Wegschauen versündigt, sondern der gesamte „Big Data Komplex.“ Es ist nicht nur ein ungünstiges Zusammenwirken verschiedener Staaten, sondern wie Schirrmacher bei Beckmann unlägnst ganz richtig gesagt hat: Ein unheiliges Zusammenwirken von Wirtschaft und Staat, GEGEN seine eigenen Bürger.

      Ach ja, ich habe noch zwei Windows 8 Phones zu verkaufen, wenn jemand noch Interesse haben sollte.

      Gruss,

      SH

      1. Christoph Kappes sagt:

        Ich erlaube mir den Hinweis, dass der Kommentar 12 Mal das Wort „Regulierung“ in allen Formen und Flexionen enthält und Stefan Herwig Inhaber des Plattenlabels Dependent ist-

  13. @Christoph Kappes

    Ihr Text krankt leider an einem gravierenden Problem. Zwar betonen Sie einerseits, dass Vertrauen eine Essenz sozialer Beziehungen sei. Auf der anderen Seite wird der Text aber von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat geprägt. Er lebt von der Unterstellung, dass der Staat die gesammelten Daten für andere Zwecke einsetzt als er offiziell behauptet. Sicherlich kann diese Gefahr nicht völlig ausgeschlossen werden. Allerdings bezieht sich der geäußerte Verdacht auf eine noch unbekannte Zukunft. Ob das Misstrauen gerechtfertigt war, wird man erst wissen, wenn diese mögliche Zukunft zur tatsächlichen Vergangenheit geworden ist. Ein Misstrauen, das allerdings aktuell nicht gerechtfertigt ist.

    Ein früherer Kommentator hatte angemerkt, dass Sie zu juristisch argumentieren. Dem würde ich zustimmen. Denn (Staats-)Recht ist letztlich nichts anderes als das institutionalisierte Misstrauen des Staates gegen sich selbst. Deswegen muss er seine Macht einer Zweitcodierung durch das Recht unterwerfen, um seine ausufernde Macht zu begrenzen. Das spiegelt auch Ihr Text wieder.

    Die viel grundsätzlichere Frage ist aber, kann der Staat seinen Bürgern überhaupt vertrauen? Das Problem, für das Politik die Lösung ist, ist dass man für die Zukunft nicht ausschließen kann, dass es Menschen geben wird, die ihre Interessen mit der Anwendung physischer Gewalt durchsetzen. Ein Verdacht, der aufgrund der Vergangenheit nicht vollkommen ungerechtfertigt ist. Mit anderen Worten, das Grundprinzip der Politik ist Misstrauen gegenüber möglichen Feinden im In- und Ausland. Da Misstrauen immer regressiv ausufert und in sich selbst keine Grenze findet, benötigt man das Recht um ein System der Checks & Balances zu etablieren. Dabei kann es nicht um die Frage gehen, ob man staatliche Überwachung zulässt oder nicht, sondern nur darum, wie dies mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu vereinbaren ist. Das Stichwort „angemessene Regulierung“ ist ja schon gefallen. Man sollte vielleicht auch weniger in hochmoralischen Kategorien diskutieren. Damit verstellt man sich nur den Blick für die Gegenwart. Die zeigt eben, dass man in der Praxis mit Moral nicht weit kommt. Ansonsten bräuchte man letztlich auch kein Recht und keine Politik. So benennen Sie zwar bestimmte Möglichkeiten der Überwachung richtig – allerdings unter den falschen Prämissen -, denn das Problem (Politik untergräbt Vertrauen) wird mit der Lösung (Politik schafft Vertrauen) verwechselt.

    Insofern stimmt auch das Argument nicht, dass das Bewusstsein einer geheimdienstlichen Überwachung das Vertrauen in der Gesellschaft errodiert. Ein Apparat der aus gegenseitigem Misstrauen erwächst, kann kein Vertrauen herstellen. Mithin ist Vertrauen kein Gut über das man nach Belieben verfügen kann, sondern etwas, dass sich aus der eigenen Beobachtungspraxis entwickelt. Vielmehr kann man nur darauf vertrauen, dass der Staat misstrauisch bleiben wird. Denn er hat eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Und das ist der Schutz vor physischer Gewalt. Erst wenn es dieses Problem nicht mehr gibt, wird auch der Staat mit seinen Terror-/Verbrechenspräventions- und –aufklärungsmaßnahmen überflüssig. Damit ist aber in absehbarer Zeit wohl eher nicht zu rechnen.

  14. Ibo sagt:

    Hallo Herr Kappes,

    erfrischend tiefgründig. Was ich mich frage, warum Sie so eurozentrisch immer etwas von „westlichem“ oder „abendländischem“ Menschenbild sprechen, das angeblich Überwachung und Misstrauen negativ sehe. Ich finde das ehrlich gesagt sehr gewagt. Warum belassen wir es nicht auf einfache Erklärungen, dass jede Gesellschaft zu jeder Zeit einen Ausgleich finden muss zwischen Kontrolle und Freiheit. Und es ist gerade der Westen, der durch die technologische Entwicklung der letzten 200 Jahre das Übermaß an Kontrolle und Überwachung befördert hat und das Negative in jedem Menschen und in jeder Gesellschaft potenziert. Oder sind KZ, Atombombe, Massenvernichtungswaffen und Weltkriege nicht westliche Erzeugnisse?

    Mit freundlichen Grüßen

  15. Alfred Fuhr sagt:

    Hallo liebe Lesendenen, hallo Herr Kappes, über das Kursbuch neue Medien von 1996 bin ich über die Feiertage auf diesen Tagungsbericht gestoßen, der m.E. zeigt, wie sie und die Kommentatoren hier an der richtigen Stelle kritisch nachfragen – dass aber derzeit auch von Seiten der Wissenschaftler sowohl aus dem Bereich der Medien und der Kulturwissenschaften wenig Konkrettes zum Thema Soziale Medien, Netzwerke da ist, und daher noch offen bleibt und wie das Netz theoretisch verstanden werden kann, und was empirisch kaum noch zu vermessen ist, nämlich dieses Rätsel Kommunikation im INTERNET: daher sollten wir uns in Geduld üben und unsere Kundschafterrolle als Praktiker im Netz und als Deuter und Beschreiber dieser Möglichkeiten und Risiken ruhig bescheiden und demütig annehmen, so verstehe ich dien Autor dieses Tagungsberichtes einer DFG geförderten Veranstaltung aus dem Jahre 2012, und empfehle die Lektuere . hier der Link.http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4160

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