08.05.2013

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„Theater und Netz“ – Ein Bullshit-Bingo, umkleidet von 30 Thesen

Ein Bullshit-Bingo, umkleidet von 30 Thesen, zur Konferenz „Theater und Netz“ des Portals nachtkritik und der Heinrich Böll Stiftung. Zur Konferenz geht es hier, hier (und dort) sind die Thesen:

A. Medium, Raum, Ströme

1. Theater ist Information. Das Internet kann Träger („Medium“) für Theater sein und es so an jeden Ort der Welt (Explosion) und die Welt an den Ort (Implosion) bringen. Ubiquitäres Theater

2. Mit neuen Distributionsmechanismen1 wird Theater nicht an einen, sondern an viele Orte im digitalen Raum gelangen, die unterschiedliche Reichweite und Funktion haben und die miteinander in vielerlei Verhältnis stehen (nebeneinander, verschachtelt, verschränkt und verwoben – wie Orte in der Stadt). Verteiltes Theater

3. In den Kommunikationsräumen des Internets können neue Theater-Formate entstehen, bei denen die Akteure räumlich verteilt sind (Akt 1 an Ort A und Akt 2 an Ort B usw.) und das Geschehen zeitlich gestreckt ist. Beides eröffnet möglicherweise neue dramaturgische und partizipative Möglichkeiten, z.B. diskursive Einschübe. Gestrecktes Theater/Slow Theatre

4. Durch die Explosion des Schauspiels in die Orte der Online-Welt können neue Kontexte entstehen (auch durch kleinere Sinneinheiten wie Zitate2). In diesen neuen Kontexten entstehen neue Interaktionschancen mit neuem Publikum, aber auch Sinnverschiebungen, -verfremdungen, Mehrdeutigkeit, mit der sich künstlerisch arbeiten lässt. Kontextualisiertes Theater

5. Aus einer anderen Perspektive gesehen dringt Theater in andere Medienkontexte vor, z.B. in die politische Bühne3 oder die kirchliche Bühne, bis hin zu Embedded Theater.

6. Aber: Theater als Kommunikation unter Anwesenden (Präsenz) erzeugt Kommunikation in immer neuen, flüchtigen Varianten (Selektionsketten). Die Wiederholung, die durch Aufzeichnung möglich ist, hat nicht die spezifische Eigenschaft des einmaligen, flüchtigen Schauspiels, Unvorhersehbares und daher Überraschendes zu erzeugen. Uniques Theater

7. Digitalisiertes Theater ersetzt also herkömmliches Theater nicht, sondern ergänzt es und ist folglich ein zweiter (Ausspiel-) Kanal zu Theater, Multichannel-Theater. Diese Sicht wird allerdings nach ihrer Entdeckung verschwinden4. Langfristig ist es wahrscheinlich egal, wie die Information auf die Netzhäute gelangt.

B. Original, Variation, Partizipation

1. Partizipation durch jedermann, welche eine geplante, lineare Grundstruktur verändert, ist für das Publikum meist uninteressant, weil sie Sinn verhindert. Diese Partizipation fördert auch Unterhaltung nicht, weil Irritation nicht sinn-voll aufgelöst werden kann. Keine De-Linearisierung

2. Möglich ist mehr Partizipation dort, wo Detail-Inhalte (von kleinsten Sinneinheiten bis zu größeren Werkteilen) und Ressourcen (Personen, Umgebungen) verändert oder Elemente (Spuren, Einschübe…) hinzugefügt werden können. Hier ist Partizipation nicht nur Teilnahme (an Fremdem), sondern Mit-Täterschaft/Mit-Urheberschaft (an Gemeinsamem). Kollaboratives Theater

3. Durch Digitalisierung sinken Barrieren und es entstehen neue Reichweiten, die zu einer „Demokratisierung“ führen können. Tele-Loge = Home-Theater = „Volks-Theater“ (?)

4.Crowdfunding macht Theater zur eigenen Angelegenheit von Zuschauern.

5. Es ist absehbar, dass Elemente eines Schauspiels (z.B. Bühnenbild) spurenweise verändert und getauscht werden können (siehe Game-Engines). Theater-Rmx

6. Es ist absehbar, dass vorgefertigtes Theater um eigenes Schauspiel ergänzt werden kann.Karaoke5-Theater, Casting-Theater

7. Es ist absehbar, dass im Augmented Theater das Schauspiel um Elemente ergänzt werden kann6, dass Zusatzinformation angezeigt werden können7 und dass Teile des Schauspiels in die Wirklichkeit des Nutzers erweitert werden können8.

8. Die Aufführungen einer Inszenierung könnten folglich zunehmend weniger dem Prinzip der Serialisierung folgen, sondern werden immer unterschiedlicher werden. Jede Aufführung unterscheidet sich klar von jeder anderen, „die siebte im Mai war grandios“.

9. Durch digitale Mittel werden Unterschiede sichtbar (zwischen Aufführungen, Inszenierungen, Interpretationen …). Dadurch rückt die Veränderung ins Sichtfeld9Prozess-Theater

10. Wird das Internet zur (medialen) Bühne, könnte Zuschauer-Partizipation zu neuen Mischformen zwischen vorstrukturiertem Theater, Live-Performance und Online-Medien sowie profaner „Realität“ führen. Die Entgrenzung führt zu Liquid Theater.

11. Kritik ist der Modus der Internet-Öffentlichkeit. Das Theater muss damit umgehen, dass es kritisiert wird. Hierzu sind Formen zu entwickeln.

C. Vernetzung, Erregung, Augenhöhe

1. Vernetzung ändert nicht die Aufführung, aber den Zugang zu ihr (analog zur Publikation). Subjektive, soziale, relevante, aggregierte Sichten auf die Aufführung und ihre Teile werden möglich (also eine neue Dimension von Information). Kleinere Inhaltseinheiten kommen ins Blickfeld, werden nach neuen Mechanismen rezipiert und wichtige werden selektiert. Compact-Theater, Theater-Zapping, Compressed Theater, Relevanz-Theater

2. Im Netz gibt es immer einen Akteur, der noch kritischer, provokanter und empörender ist, als das Theater je war. Dies erzeugt kommunikative Erregung , die schnell und unerwartet kommt (sog. Shitstorm). Wut und Empörung sind entgegen landläufiger Lesart Zeichen psychischer Gesundheit und der Existenz von Moralmaßstäben. Theater kann nun also, statt Erregung auszulösen, diese nutzen, um ihr auf den Grund zu gehen. Shitstorm-Transformations-Theater

3. Am Ort des Schauspiels und in seiner digitalen Verlängerung können sich Zuschauer auf digitalen Wegen unterhalten, den Inhalt kommentieren, Zitate und Links tauschen sowie parallel passende Inhalte und Sonderformate abrufen. Social Theater

4. Es kann sein, dass die Antwort des Theaters auf die ständig kommunizierende Generation „Always On“ ein Zusatzprogramm als Second Screen ist10Second Theater

5. In allen Aspekten der Vernetzung liegen große Chancen für Theater, ein neues Publikum zu erreichen. (Dies erfordert vermutlich eine radikal andere Sicht auf digitale Kommunikation. Und neue Formate und Inhalte: in der Netzgesellschaft ist Orientierung erwünscht, aber kein Von-Oben-Herab.)

D. Funktion, Sinn, „Echtheit“

1. Da die Verhandlung sozialer Fragen zunehmend im Internet durch das Publikum selbst geschieht, kann sich das Theater auf die „großen Fragen“ konzentrieren, die das Menschsein ausmachen. Existenz-Theater

2. Die Digitalisierung wird Theater zu werbefinanzierten Geschäftsmodellen verleiten und einem zweiseitigen Markt ausliefern. Dies gefährdet seine Funktion als Ort der ehrlichen Auseinandersetzung von Personen und Institutionen oder gar der Gesellschaft mit sich selbst.Kommerzialisiertes Theater

3. Durch Nutzung aller digitalen Mittel kann Theater die Reichweiten erhöhen und so gesellschaftspolitische Debatten auslösen und mitgestalten – so wie Bücher die großen Diskurse prägen. Diskurs-Theater

4. Ob eine Handlung „fiktiv“ oder „echt“ (Handlungsfiktion oder Handlungsfälschung) ist, kann im Digitalen grundsätzlich nicht unterschieden werden. Theater, das sich in der Form verwechselbar macht, kann besonders irritieren, stören, erhellen – zumal sich andere Institutionen wie Politik zunehmend medial inszenieren, Theatralität der Politik, die damit allerdings auch legitime Zwecke verfolgt11. Die Institution Theater wird der Troll der Gesellschaft. Troll-Theater

5. Aufgrund zunehmender Erregung und Shitstorms liegt die Chance des Theaters eher in der Reflexion. (s. C. 2.)

6. Wegen des Überangebotes im Digitalen kann Theater seine Unterhaltungsfunktion einbüßen, dennoch wird es als lokales, lebendiges Theater „reborn“, weil es mehr Menschen dank weniger Barrieren erreicht und die örtliche Gemeinschaft den Gegenpol zur Globalisierung bietet. Local Theater

7. Theater erzieht zur Konzentration auf Stille (zwischen Sprache) und Ruhe (zwischen Bewegungen) und schult den Geist in Achtsamkeit. Es ist daher sinnvolles Gegengewicht zur Nutzung digitaler Inhalte, die (aufgrund des werbefinanzierten Geschäftsmodells) von Abbrüchen geprägt ist. Je medialer Kommunikation wird, desto mehr wächst der Wunsch nach „echter“ Kommunikation, die an Reichhaltigkeit und Emotionalität nicht zu überbieten ist. Intensiv-Theater12

 

Fußnoten:

1) Dafür sorgen technische Dienste, die sich um Rechtemanagement und Abrechnung kümmern.

2) Beispiel 1: Ein Live-Stream zu einem politischen Stück wird in Umfeld mit anderer Ideologie geteilt. Beispiel 2: Ein Stück über Stammheim erscheint am Ort einer Straftat.

3) Siehe Paralleldiskussion im eCommerce, weil der (digitale) Distanzhandel genauso Realität wie der Handel in (physischen) Filialen ist und die Vorstellung getrennter „Kanäle“ nicht der Lebenswirklichkeit von Kunden/Zuschauern entspricht.

4) http://de.wikipedia.org/wiki/Karaoke.

5) Beispiel: Je nach Vorlieben, Kontexten und anderem erscheinen Fabelwesen auf der Bühne.

6) Sekundärliteratur, Schauspielerdatenbank etc.

7) Vorstellung kündigt sich Tage vorher durch Einblendungen an. Akt erscheint an bestimmten Orten (Geokoordinaten).

8) Vgl. Mario Carpo für die Entwicklungen in der Architektur (NZZ,http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/kunst_architektur/vitruv-im-digitalen-zeitalter-1.15629496).

9) Das könnte auch ein Moderator, Souffleur usw sein.

10) Kolesch, Doris: „Politik als Theater: Plädoyer für ein ungeliebtes Paar“,http://www.bpb.de/apuz/30929/politik-als-theater-plaedoyer-fuer-ein-ungeliebtes-paar?p=all.

11) Und nicht: Antidigitales Theater.

 

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